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100 Jahre Frauenwahlrecht - 100 Jahre Frauengeschichten

Seit Frauen am 19. Januar 1919 erstmals wählen durften, haben sie sich nicht mehr von ihrem Weg zu mehr Selbstbestimmung abbringen lassen. In dieser Serie stellen wir starke Frauen aus zehn Jahrzehnten vor, die Politik, Gesellschaft und Kirche prägten und für Freiheit, Glauben und Gleichberechtigung eingetreten sind. Alle historischen Frauenporträts im Überblick

Folge 7: Annemarie Renger

"Es ist jetzt bewiesen, dass eine Frau das kann!"

Der Moment, jetzt ist er da. Lange hat sie auf ihn hingearbeitet, hat sich durchgesetzt, gerungen, gekämpft und am Ende gesiegt. All jene, die an ihr gezweifelt haben, hat sie eines Besseren belehrt. All jene, die an sie geglaubt haben, in ihrem Glauben bestärkt.

Von Nadine Diab

Es ist der 13. Dezember 1972 und Annemarie Renger tritt das Amt der Präsidentin des Deutschen Bundestages an. Nach dem überwältigenden Wahlsieg Willy Brandts wird sie die erste Frau in diesem Amt. Dass das zu dieser Zeit etwas Besonderes ist, jedoch nichts Außergewöhnliches sein sollte, betont sie in ihrer ersten Rede.

"Die Wahl einer Frau für dieses Amt", so sagte sie in ihrer großen Antrittsrede, "hat verständlicherweise einiges Aufsehen erregt. Das Erstmalige und mithin Ungewohnte gerät in die Gefahr, zum Einmaligen und Besonderen erhoben zu werden."

Damit sei niemandem gedient, erklärt Annemarie Renger in ihrer Biographie "Ein politisches Leben - Erinnerungen", in der sie jenes großen Moments gedenkt.

Vorurteile abbauen

Weiter heißt es in ihrer Antrittsrede: "Ich meine, dass die Frauen unter den Mitgliedern, auch wenn sie zahlenmäßig nicht so stark vertreten sind, wie es ihre Rolle in Staat und Gesellschaft erfordern würde, keine Ausnahmestellung wünschen. Vielleicht kann gerade deshalb die Tatsache, dass einer Frau zum ersten Male in der deutschen Geschichte das Amt des Parlamentspräsidenten übertragen worden ist, dazu beitragen, Vorurteile abzubauen, die in einer unbefangenen Beurteilung der Rolle der Frau in unserer Gesellschaft noch immer entgegenstehen."

Vorurteile, Rollenbilder, Klischees: Auch Annemarie Renger kennt diese Aspekte nur zu gut, begegneten sie ihr doch selbst oft genug von allen Seiten in ihrem Leben. Aber wie war denn nun die Renger, die von den Journalisten nach einem Jahr im Amt den Titel "Miss Bundestag" zugeschrieben bekam, weil sie stets so elegant und wohlfrisiert erschien?

"Miss Bundestag"

Ruppig sei sie gewesen und furchtlos. Leidenschaftlich in der Politik, aber auch im Tennis und Skatspiel. Von keinem Mann sei sie, die fast vierzig Jahre im Parlament saß, eingeschüchtert gewesen oder habe sich gar die Butter vom Brot nehmen lassen. Warum denn auch?

"Selbst ist die Frau", diese Redensart trifft auf Renger, die am 7. Oktober 1919 als Annemarie Eleonore Wildung in Leipzig geboren wurde, wohl am besten zu.

So überraschte es Parteigenossen und Wegbegleiter wohl nicht sonderlich, als sie sich nach der Bundestagswahl 1972 selbst für das Amt als Bundestagspräsidentin vorschlug. Das war weder schick noch besonders weiblich, scherte Annemarie Renger jedoch nicht. Ihr Kommentar später dazu: "Glauben Sie, man hätte mich sonst genommen?"

Leben einer selbstbestimmten Frau

Renger predigte nicht nur, sondern lebte auch das, wofür sie sich seit Jahren stark machte: das Leben einer selbstbestimmten Frau. Ende 1966 war sie vom Parteivorstand der SPD, dem sie seit 1962 angehörte, zur Vorsitzenden des Bundes-Frauenausschusses gewählt worden.

Das Thema Frauenpolitik war für sie in dieser Zeit politischer und parlamentarischer Schwerpunkt.

"Wir Frauen übten qualifizierte Berufe aus und sahen die Berufstätigkeit als eine wesentliche Basis für unsere Lebenserfüllung und Unabhängigkeit an", schreibt sie in "Ein politisches Leben".

Besonders die Themen Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder gleiche Entlohnung sind es, die ihr am Herzen liegen. Sie startete die Aktion "Gleicher Lohn für gleiche Leistung", um "das Problem in der Öffentlichkeit viel stärker publik zu machen".

Ihr Amt als Bundespräsidentin nutzte sie immer auch für die Interessen der Frauen.

Sozialdemokratisches Elternhaus

Um Rengers Wagemut und ihren Durchsetzungswillen zu verstehen, muss man einen Blick in ihre Kindheit werfen. Als jüngstes von sieben Kindern war Annemarie Renger die Tochter des SPD-Arbeiterführers Fritz Wildung.

Schon Mutter Martha war für damalige Verhältnisse durchaus emanzipiert: Sie gehörte im Jahr 1907 zu den ersten Frauen, die in die SPD eintraten, und war Mitglied des Arbeiter-Turnvereins, dessen Vorsitz ihr Mann Fritz innehatte.

Zum sozialdemokratischen Elternhaus gehörte, sich auf verschiedenen Gebieten der Arbeiterbewegung zu organisieren und sich einzubringen:

"Wir Wildungs fühlten uns als aufgeklärte, moderne Familie", sagt Annemarie Renger rückblickend. Es ist der Vater, der früh die Gefahr des Nationalsozialismus erkennt.

1933 verliert Fritz Wildung die Arbeit, die Familie lebt von 130 Mark Arbeitslosenunterstützung. Annemarie Renger muss die Schule verlassen, das Geld reicht nicht mehr, und beginnt eine Verlagslehre. Hier lernt sie auch ihren Mann Emil kennen. 1938 heiraten die beiden, Sohn Rolf wird noch im gleichen Jahr geboren. Wenige Jahre später ist sie Witwe. Sie verliert ihren Mann und drei Brüder im Krieg.

Vertraute Kurt Schumachers

Es gibt die eine Zeitrechnung vor dem Krieg. Es gibt jene Zeitrechnung nach dem 8. Mai 1945. Im Juni liest Annemarie Renger in einer Tageszeitung das erste Mal von Kurt Schumacher und ist sofort fasziniert.

Sie schreibt ihm einen Brief und fährt mit dem Zug in ein völlig zerbombtes Hannover. In der Jacobsstraße Nummer 10 steht sie im "Büro Dr. Schumacher" einem großen, hageren Mann gegenüber: Kurt Schumacher, der erste SPD-Vorsitzende nach dem Krieg. Renger wird seine Assistentin, Freundin und enge Vertraute.

Schumacher ist damals schon schwer gezeichnet von jahrelangen Aufenthalten in Konzentrationslagern und Gefängnissen.

Nach seinem Tod startet Annemarie Renger ihre eigene politische Karriere. 1953 wird sie in den Bundestag gewählt, 1969 wird sie Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Bundestagsfraktion, der Höhepunkt folgt 1972 mit der Wahl zur Bundestagspräsidentin.

"Ich habe in dieser Zeit erreicht, was ich wollte. Es ist bewiesen, dass eine Frau das kann", sagte sie im Anschluss an ihre Amtszeit. Wieder einmal hat sie es allen gezeigt und den Weg für mehr Gleichstellung in der Politik geebnet. 1990 scheidet Annemarie Renger aus dem Bundestag aus.

Sie stirbt am 3. März 2008. "Der Bundestag ist kein Mädchenpensionat, in dem alles so gesittet zugeht", soll sie übrigens auch gesagt haben. Um einen Spruch war Annemarie Renger nie verlegen.

Weitere wichtige Frauen des Jahrzehnts 1970 bis 1979

Alice Schwarzer engagiert sich Anfang der 70er-Jahre zunächst in der französischen Frauenbewegung, dann auch in der deutschen. Sie initiiert die legendäre Titelgeschichte des Stern zum Abtreibungsparagrafen 218 und veröffentlicht diverse Bücher rund um die Gleichberechtigung der Frau. 1977 gründet sie die feministische Zeitschrift "Emma".

In Wuppertal wird die Tänzerin Pina Bausch 1973 als Choreographin verpflichtet. Ihr "Tanztheater Wuppertal" erlangt, obwohl Bauschs Stil anfänglich umstritten ist, Weltruhm.

Stand: 25.06.2019