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Demokratisierung des Geistes

Prophetie in der Gegenwart

Fünfter Teil der Serie "Gerufene Rufer – Die Propheten: Mittler zwischen Gott und den Menschen"?

Von Ilse Müllner

"Eure Söhne und Töchter werden prophetisch reden, eure Alten werden Träume träumen und eure jungen Leute Visionen haben" ( Joel 3,1b ). Was für eine Verheißung! Die Gabe der Prophetie bleibt nicht beschränkt auf die großen Männer und Frauen, auf Mose, Mirjam oder Jesaja. Eine Betrachtung zum Serienabschluss.

Im Buch Joel wird die Geistfülle allen zugesagt, Männern und Frauen, Jungen wie Alten. Dass nicht nur große Einzelgestalten prophetisch reden, das haben die literarischen Prophetien der großen schriftprophetischen Bücher gezeigt. Anonyme Frauen und Männer haben im Geist Jesajas, im Geist Hoseas geschrieben – auch ihr Tun ist Prophetie. Das ist eine Erkenntnis, die in den letzten Jahren in der biblischen Theologie zunehmend Fuß gefasst hat. Für die kirchliche Wirklichkeit kann sie Inspirationskraft entfalten, wenn die göttliche Wahrheit nicht mehr nur in den großen Gestalten in Geschichte und Gegenwart der Kirche gesucht werden, sondern auch im Tun und Sprechen der Vielen. Der oben zitierte Text aus dem Joelbuch schlägt eine Brücke zu diesen Gedanken.

Im dritten Kapitel des Joelbuchs wird diese, wie die Bibelwissenschaftlerin Irmtraud Fischer es nennt, "Demokratisierung des Geistes" zum Inhalt einer Verheißung. Sie steht im Kontext der Ankündigung des Tags JHWHs, im Zusammenhang von Gericht und Endzeit. Die Prophetie ist geprägt von der Erwartung, dass etwas ganz Neues anbricht, das die oftmals als unerträglich erlebte Gegenwart auf die Wirkmacht Gottes hin öffnet. "Alle Söhne und Töchter Israels werden Prophetinnen und Propheten sein." Die Apostelgeschichte greift diese Zusage auf und versteht die pfingstliche Geburt der Kirche, die Geistbegabung aller Christinnen und Christen als eine Erfüllung dieser Zusage.

Die Aussendung des Geistes ebenso wie die Zusage der prophetischen Gaben bleiben nicht auf einen Tag beschränkt, weder auf einen, der irgendwann einmal kommen wird, noch auf einen, der vor langer Zeit einmalig stattgefunden hat. Die prophetische Geistbegabung legt den Grund für die kirchliche Gemeinschaft. Auf diesem Hintergrund spricht die kirchliche Tradition von einem prophetischen Auftrag der Kirche. Viele Katholikinnen und Katholiken seufzen angesichts eines solch großen Worts. Wo ist sie denn, die Gemeinschaft, deren Töchter und Söhne prophetisch reden? Wo sind die Christinnen und Christen, die es verstehen, unsere Welt transparent zu machen auf die Wirklichkeit Gottes hin? Viel häufiger als eine geisterfüllte ist doch eine Kirche erfahrbar, deren Strukturen erstarrt sind und deren Söhne, vielleicht häufiger noch die Töchter zu verstummen drohen angesichts institutioneller Enge. Von einer Geistkraft, die weht, wo sie will, ist oft nichts zu spüren.

Natürlich fallen bei näherem Hinsehen auch die Menschen in der Kirche auf, die diesem Eindruck widersprechen. Die "Ordensleute für den Frieden", die Woche für Woche vor den Banken Frankfurts an die Opfer dieses ökonomischen Systems erinnern. Moraltheologinnen und -theologen, die sich endlich für neue Orientierungen im Bereich der Sexualmoral einsetzen. Die Einsprüche der Kirchen gegen Rüstungsindustrie und ökologische Ausbeutung. Die Globalisierung von unten, Vernetzungen, die über Kontinente hinweg Solidarität leben – gerade in kirchlichen Kreisen. Sollte das nicht prophetisches Handeln sein? Auf die Frage, wer und was mich in dieser oft so unwirtlichen Kirche hält, sind diese Menschen, ihre Visionen und ihr Einsatz, eine, vielleicht die wichtigste Antwort. Ich erlebe in diesen Zusammenhängen eine Kirche, die sich von den dominanten Logiken des Markts nicht einschüchtern lässt.

Woher kommt die Kraft dieser Prophetinnen und Propheten? Ich denke, dass sie, wie die biblischen Propheten, nur so handeln können, weil sie sich von der Kraft Gottes getragen wissen. Da geht es nicht um Verbohrtheit und nicht um einen Fanatismus der Scheuklappen. Im Gegenteil: Auch die Prophetinnen und Propheten von heute nehmen die Welt in ihrer Widersprüchlichkeit und in ihrer Herausforderung wahr. Das, was sie sehen und wie sie es beurteilen, unterscheidet sie oft gar nicht von den vielen, die ebenso kritisch gegenüber Rüstungsexporten und Aufrüstung sind – dafür aber keinen Ausdruck finden.

In den letzten Jahren ist die Fähigkeit zum öffentlichen Ausdruck mit den dafür zur Verfügung stehenden Möglichkeiten gewachsen. Wir erleben durch das Internet eine Umwälzung kommunikativer Möglichkeiten, die jetzt schon mit der Erfindung des Buchdrucks verglichen wird. Gerade in den politischen Zusammenhängen dieses weltumspannenden Netzes ist oft der Name nicht mehr wichtig. Zentral ist, was jemand zu sagen hat und ob diese Aussage Zustimmung findet. Die alte philosophische Einsicht, dass das Ganze immer mehr ist als die Summe seiner Teile, wird in den Weiten des Netzes gelebt und zu Erkenntnisfindung ebenso wie zu politischem Handeln genutzt. Von Schwarm- oder Netzwerkintelligenz ist die Rede, die es vermag, der Demokratie neue Impulse zu geben.

Häufig werden auch Künstlerinnen und Künstler als Propheten bezeichnet. Was ist denn das Prophetische an der Kunst? Sowohl in der bildenden Kunst als auch in der Literatur oder in der Musik ist die Sensibilität für die Ströme und Unterströme der Gegenwart sehr hoch. Künstlerische Werke schaffen einen Raum für ästhetische Erfahrung. Die Kunst gibt keine klaren Positionen vor, sondern ungewöhnliche Perspektiven, die dazu einladen, den eigenen Standort zu entwickeln.

Die prophetische Kraft kann und darf nicht auf innerkirchliche, auch nicht auf religiöse Zusammenhänge beschränkt werden. Wir kennen den Begriff der "Fremdprophetie". Er erinnert daran, dass göttliche Wahrheit nicht nur im Binnenraum der Kirche zu suchen und zu finden ist.

Stand: 04.01.2018