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Am falschen Platz

Wie es dazu kommt, dass jüngere Menschen mit Behinderung in Altenheimen leben

Von Carmen Molitor

Damit ihr Kind trotz einer schweren Behinderung gut versorgt zu Hause leben kann, mobilisieren viele Eltern über Jahrzehnte hinweg alle ihre Kraftreserven. Doch wenn die Angehörigen zu alt für die Pflege und Betreuung zuhause werden oder damit irgendwann psychisch überfordert sind, beginnt die schwierige Suche nach einer Alternative. Die für manche am völlig falschen Platz endet.

Für einen schwer behinderten Menschen in einer betreuten Wohngemeinschaft oder in einem Heim der Eingliederungshilfe einen geeigneten Platz zu finden, ist vor allem im ländlichen Raum ein Problem. Die Angebote sind rar und für die Kostenträger, die das entscheidende Wort bei der Unterbringung mitreden, teuer. So kommt es immer wieder vor, dass jüngere Menschen mit Behinderung schließlich an einem Ort wohnen, wo sie nicht hingehören: im Altenheim.

Anita Kaspers zum Beispiel (Name geändert). Die Hessin leidet an Morbus Little und kann in Folge einer Hirnschädigung im Kindesalter wegen Spastiken und Lähmungen nicht selbstständig sitzen. Nach Differenzen mit ihrem Stiefvater wuchs sie bei ihrer Tante und deren Mann auf und lebte bis zum 47. Lebensjahr in dieser Pflegefamilie. Anita Kaspers hat viel Talent: Hauslehrer unterrichteten sie bis zum Abitur, danach machte sie ein Fremdsprachen-Diplom und gab über viele Jahre selber Sprachunterricht. Dann schlug das Schicksal zu: Kurz nach dem Tod des Onkels diagnostizierten die Ärzte bei der Tante Krebs. Anita Kaspers wollte nicht, dass die betagte Frau sich weiter um ihre Betreuung kümmern musste. Gemeinsam zogen sie in ein katholisches Altenheim. Die Tante starb bald, Anita Kaspers blieb.
Für ihre körperliche Pflege ist seitdem zuverlässig gesorgt, aber ihr selbstbestimmtes Leben, ihr Beruf, eine intensive Förderung – all das ist vorbei. Sie braucht die Hilfe des Pflegepersonals, um ins Bett und wieder hinauszukommen, aber das geht aufgrund der knappen Personaldecke im Heim nur zu festgelegten Zeiten. Hingelegt wird sie zu Beginn der Nachtschicht, spätestens um 19.30 Uhr. Aufstehen ist morgens um 6.30 Uhr angesagt. Anita Kaspers hat wenig Kontakt zu den anderen Heimbewohnerinnen und Heimbewohnern, die alle über 80 Jahre alt sind. "Das sind verschiedene Wellenlängen", sagt sie.

Das Schicksal von Anita Kaspers und anderen sogenannten "Fehlplatzierten" in hessischen Altenhilfe-Einrichtungen hat der Wissenschaftler Markus Drolshagen in seiner Dissertation mit dem Titel "Was mir fehlt, ist ein Zuhause" beschrieben und intensiv analysiert. Er knüpft dabei an eine der wenigen Studien an, die Zahlen zu dem Problem erhoben: Danach waren Ende 2000 in 567 hessischen Altenheimen 1427 Menschen unter 60 Jahren untergebracht. Es sind Menschen, die am falschen Platz leben und von Personal betreut werden, dass sich fachlich zwar mit dem Pflegebedarf von alten, aber nicht mit der nötigen und möglichen Aktivierung von jüngeren Menschen mit schweren Behinderungen auskennt.

Die meisten "Fehlplatzierten" – darunter manchmal auch Kinder – kommen nach Erkenntnissen der vorliegenden Studien aus einer häuslichen Betreuung, die nicht mehr funktionierte, oder zogen nach einem schweren Unfall aus Krankenhaus und Reha gleich ins Altenheim um, weil für sie eine Pflege zuhause nicht zustande kam. Drolshagen hat ungenügende Beratung von den zuständigen kommunalen Stellen oder den Sozialdiensten in Krankenhäusern und ein zu geringes Problembewusstsein bei den zuständigen Leistungsträgern als Gründe ausgemacht, warum für sie keine anderen Wohnplätze mit der Chance auf mehr selbstbestimmtes Leben gesucht und gefunden wurden.

Das Fatale: Selbst in den Fällen, in denen das Altenheim zunächst lediglich als praktische Not- und Übergangslösung gedacht war, blieben die Betroffenen häufig dauerhaft. Es war für sie und ihre Angehörigen eine nicht zu überwindende Hürde, eine Rückkehr in eine selbstständigere Wohn- und Lebensform zu organisieren. Ambulante Versorgungsnetzwerke und Betreuungsangebote, die den Familien dabei eine große Hilfe sein könnten, fehlen noch in vielen Regionen.

Eine Studie des Bundesfamilienministeriums geht davon aus, dass 2005 knapp 30.000 der insgesamt 749.000 Bewohnerinnen und Bewohner in vollstationären Alteneinrichtungen unter 60 Jahre alt waren, das Durchschnittsalter lag bei 81,8 Jahren. Konkrete Zahlen darüber, wie viele jüngere Menschen mit schwerer Behinderung in einem Altenheim leben müssen, werden kaum erhoben: "Den für die stationäre Versorgung behinderter Menschen zuständigen Landschaftsverbänden liegen hierzu keine Informationen vor", antwortete beispielsweise Anfang 2011 das Sozialministerium des Landes NRW auf eine entsprechende Kleine Anfrage der CDU. Und als das Thema es aufgrund von Presseberichten im März 2011 auf die Tagesordnung eines Fachausschusses (FA) der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe schaffte, vermerkt das Protokoll als Fazit: "Nach Auffassung des FA ist das Thema Fehlplatzierung kein generelles Problem. Es kann sich allenfalls um Einzelfälle handeln, die aber innerhalb der gegebenen Strukturen gelöst werden."

Alles nur Einzelfälle? Das sehen Interessensverbände von Menschen mit Behinderung und ihrer Angehöriger sowie Behindertenbeauftragte in Bund und Ländern anders. Sie kritisieren, dass die unpassende Unterbringung von jüngeren Menschen mit schwerer Behinderung in Altenheimen vor allem finanzielle Ursachen habe, und befürchten, dass sie in Zukunft noch häufiger vorkommen werde. Der Grund: die leeren Kassen der Kommunen. Für die Sozialämter der Kommunen ist es schlicht billiger, jemanden im Altenpflegeheim unterzubringen als in einer Behinderteneinrichtung der Eingliederungshilfe, wo neben der Pflege auch eine pädagogische Betreuung und Förderung angeboten wird. Denn für den Altenheimplatz muss – entsprechend der jeweiligen Pflegestufe – hauptsächlich die Pflegeversicherung aufkommen. Wenn es um einen Platz in einem Heim der Eingliederungshilfe geht, wird es teuer für die Kommunen, denn dann beteiligt sich die Pflegeversicherung nur mit höchstens 256 Euro pro Monat und Person an den Kosten.

Das Sozialgesetzbuch XII betont die Grundregel "ambulant vor stationär". Leistungen für einen Platz in einer solchen WG zu bekommen, sollte je nach Einzelfall also sogar leichter sein, als einen Platz im Heim. Es gibt aber eine Hintertür: "Der Vorrang der ambulanten Leistung gilt nicht, wenn eine Leistung für eine geeignete stationäre Einrichtung zumutbar und eine ambulante Leistung mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist", heißt es in §13. Dieser Kostenvorbehalt gehöre abgeschafft, denn die UN-Behindertenrechtskonvention garantiere die freie Wahl der Wohnform als Menschenrecht, kritisiert die "Interessensvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V." (ISL). Bis heute würden aber Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf "aus Kostengründen gegen ihren Willen in stationären Einrichtungen untergebracht". Sogar in Altenheimen.

Stand: 04.01.2018