Wir brauchen Zeitwohlstand
Wie könnten wir am Ende des Jahrzehntes dastehen? Die politischen Weichen werden nach der Bundestagswahl im September gestellt. Die Politikwissenschaftlerin Annette Henninger könnte sich Deutschland 2030 so vorstellen: Mehr Gleichberechtigung und Diversität, weniger Erwerbsarbeit, mehr Zeit und Muße für Fürsorge und Freundschaften, geschütztes Klima, geringerer Konsum.
Wie das alles zusammenpasst, verrät sie im Interview mit Jutta Laege.
Junia: Gleichberechtigung und Vereinbarkeit von Familie und Beruf – in den Wahlprogrammen überschlagen sich die Parteien plötzlich alle mit Angeboten. Gibt es da gerade einen Paradigmenwechsel?
Annette Henninger: Wir sind auf dem Weg zu einer Sozialdemokratisierung der Familienpolitik. Viele der großen Reformen wie der Ausbau der Kinderbetreuung oder die Einführung des Elterngeldes haben ja schon vor Jahren begonnen. Da ist das System ganz grundlegend umgestellt worden. Das frühere Erziehungsgeld war eine bedarfsgeprüfte Leistung für Eltern aus unteren Einkommensgruppen. Das „neue“ Elterngeld (von 2007) ist eine einkommensabhängige Leistung, wodurch 80 bis 90 Prozent der Eltern antragsberechtigt wurden. Und es spricht gezielt die Väter mit an. Deren Anteil liegt inzwischen bei etwa 37 Prozent, auch wenn der Elterngeldbezug oft nur kurz ist. Wir sprechen ja meistens von den zwei „Vätermonaten“, obwohl Männer natürlich auch länger in Elternzeit gehen könnten.
Ist das aus Frauensicht ausreichend?
Das neue Leitbild ist die Erwerbstätigkeit aller Erwachsenen. Staatliche Familienpolitik soll Eltern dabei unterstützen. Zum neuen Leitbild gehört der aktive Vater, der sich stärker als bisher in die Kinderbetreuung mit einbringt. Das ist schön auf dem Papier. Wir wissen aber, dass es in der Praxis seine Haken hat. Nicht nur mit Blick auf die reale Aufteilung der Elternzeit, wo Mütter immer noch den Großteil bewältigen, sondern auch mit Blick auf fortbestehende Geschlechterungerechtigkeiten am Arbeitsmarkt.
Wir haben immer noch einen der größten Gender Pay Gaps in Europa."
Der berühmte Gender Pay Gap …
Ja, wir haben immer noch einen der größten Gender Pay Gaps, also Verdienstunterschiede zwischen Mann und Frau, in Europa. Wir haben eine hohe Konzentration von Frauen im Niedriglohnsektor, zwei Drittel der Mini-Jobberinnen sind Frauen. Nach wie vor ist es so, dass Paare nach der Geburt eines Kindes zu dem Schluss kommen: Auf das Einkommen der Mutter ist leichter zu verzichten als auf das des Vaters.
Mit Blick auf den Willen der politischen Akteure und der Unternehmen: Schließen wir in diesem Jahrzehnt die Lücke?
Ich bin da skeptisch. Es handelt sich um ein hartnäckiges Problem, das uns seit Jahrzehnten verfolgt. Durch den Einfluss der Wirtschaftsverbände auf die Politik ist beispielsweise beim Entgelttransparenzgesetz ein harmloser Papiertiger herausgekommen. Wer bei Betrieben von über 200 Mitarbeitern Lohndiskriminierung entdeckt, kann den Betrieb individuell verklagen, was aber kaum geschieht. Immerhin wurde im Familienministerium 2020 ein Papier zur Gleichstellungsstrategie bis 2030 vorbereitet, das eine Reform des Entgelttransparenzgesetzes ankündigt.
Die Rentensicherung wird eine große politische Herausforderung. Wie sehen Sie das aus Frauenperspektive? Womit kann Frau rechnen?
Es gibt keine einfache Lösung. Zur Rentenfrage gesellt sich ein ähnliches Phänomen: der Gender Pension Gap (Rentenlücke). Frauen beziehen nur etwas mehr als die Hälfte der Renteneinkünfte von Männern. Altersarmut ist beispielsweise für viele der heute 50- bis 60-jährigen Frauen programmiert, weil ein Großteil wegen niedrigerer Löhne oder Teilzeitarbeit nicht in dem Maße Rentenansprüche aufbauen konnten wie die gleichaltrigen Männer.
Kann die Sockel- oder Grundrente die Lösung sein?
Ja, die braucht es – nicht nur für die Frauen, sondern auch hinsichtlich der Situation auf dem Arbeitsmarkt mit seinem Billiglohnsektor, mit vielen Kleinselbstständigen, die gerade so über die Runden kommen. In skandinavischen Ländern, auch in den Niederlanden, gibt es ja Mehrsäulen-Modelle. Sie verknüpfen eine staatlich garantierte Mindestrente mit beitragsfinanzierter Rente und kapitalbasierter Zusatzversorgung. Wobei natürlich klar ist: Nur Menschen mit hohen Einkommen können solche Zusatzrentenversicherungen abschließen. Wir werden nicht darum herumkommen, eine staatlich ko-finanzierte Sockelrente einzuführen, die dann aus Steuergeldern finanziert werden muss – vor allem, um das Problem der Altersarmut zu bekämpfen.
Leider gehen die angebotenen politischen Konzepte bisher kaum über das Jahr 2025 hinaus. Was ist mit den nachfolgenden Rentengenerationen, Stichwort Generationengerechtigkeit?
Es ist Augenwischerei zu glauben, wenn man nichts tut, sei es für den Staat billiger. Menschen, die keine Rentenansprüche erwerben, landen ja dann im ALG-2-Bezug, müssen also auch unterstützt werden. Das zieht erheblichen bürokratischen Aufwand und erniedrigende Prozeduren für die Betroffenen nach sich – und kostet auch Geld. Und ganz ehrlich: Der Staat subventioniert mit Milliarden die Auto- und Kohle-Industrie, die Landwirtschaft und die Energiewirtschaft beim Atomausstieg. Da stellt sich doch die Frage: Wo werden bei den Ausgaben die Prioritäten gesetzt?
Warum ist es in unserer Gesellschaft mehr wert, Autos zusammenzubauen als Kinder zu erziehen?
Auf diesen Missstand hat zuletzt die Berufsgruppe der Erzieherinnen hingewiesen. Ja, es braucht mehr finanzielle Anerkennung für Fürsorgetätigkeiten – es braucht insgesamt eine Aufwertung von interpersonaler Fürsorgearbeit, auch unbezahlter! Letzteres wiederum erfordert, dass die Menschen anderweitig finanziell abgesichert sind. Wer Existenzängste hat und rund um die Uhr arbeiten muss, hat keine freien Kapazitäten, um sich um andere Menschen kümmern zu können.
Es bleibt die wiederkehrende Frage der Ungleichheit: Warum zahlen nicht alle solidarisch in die gleichen Kassen?
Es gibt ja seit Jahren die Debatte über eine Bürger*innenversicherung. Beim Thema Krankenversicherung gehöre ich zu den Befürworterinnen. Bei der Rente aber bin ich mir nicht sicher, ob es sinnvoll ist, alle Sondersysteme darin zusammenzufassen – dann müssten ja beispielsweise auch Beamte oder Ärztinnen daraus bezahlt werden. Das Grundproblem der Zukunftssicherheit der gesetzlichen Rente ist das Umlagesystem.
Das Primat der Erwerbsarbeit über unser Leben muss ein bisschen heruntergefahren werden."
Was sind aus arbeits- und sozialpolitischer Sicht die wichtigsten Ansätze für eine geschlechtergerechte Gesellschaft in diesem Jahrzehnt?
Das Primat der Erwerbsarbeit über unser Leben muss ein bisschen heruntergefahren werden. Ich kann der Vorstellung von „kurzer Vollzeit“, also 30 oder 35 Stunden als Arbeitsnorm für alle, viel abgewinnen. Was wir damit auch erreichen, ist immateriell, aber attraktiv: Zeitwohlstand. Damit einhergehen muss die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die geschlechtergerechte Arbeitsteilung und die Bekämpfung von Arbeitsmarktdiskriminierung.
Politisch oben auf der Agenda und von allen Parteien entdeckt: Nachhaltigkeit und Klimawandel – wie wichtig sind dafür die Frauen?
Frauen sind ja auch nicht die besseren Menschen – schade eigentlich … (lacht)
Klar ist: Wir werden uns einschränken müssen, nicht mehr so viel konsumieren, fliegen, reisen. Wir müssen Abstriche machen, nicht nur wegen der Klimaziele, sondern weil die billige Verfügbarkeit von Konsumgütern auf Ausbeutung von Menschen in anderen Teilen der Welt beruht – auch von vielen Frauen. Das ist ethisch nicht vertretbar, abgesehen davon, dass es uns in die CO2-Katastrophe führt. Und verzichten ist ja auch relativ. Brauchen wir wirklich vier Mal im Jahr eine neue Modekollektion? Was wir gewinnen können ist, wie gesagt: immaterieller Wohlstand.
Gegenüber Frauen wird der Ton populistischer, polarisierender, feindlicher: Wie nehmen Sie das wahr?
Nicht erst seit Corona, sondern seit der Jahrtausendwende beobachten wir international einen Anstieg rechtspopulistischer, auch christlich-fundamentalistischer Kräfte. Der Anti-Gender-Diskurs entstammt übrigens erzkatholischen rechten Kreisen im Vatikan als Gegenbewegung zur Weltbevölkerungskonferenz 1994 in Kairo und der Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking, wo es um Frauen- und auch die sogenannten Reproduktiven Rechte (Recht am eigenen Körper) ging. Die AfD fungiert seit einigen Jahren als Knotenpunkt der genannten Netzwerke. Zwar gibt es in der Partei auch starke Frauenfiguren, aber gleichzeitig wird propagiert, Kinder seien bei der Mutter am besten aufgehoben, Mütter seien eine diskriminierte Gruppe und der Feminismus sei gegen Mütter gerichtet.
Da werden Fraueninteressen einfach gegeneinander ausgespielt.
Ja – aber Antifeminismus ist nicht nur ein Problem für die Geschlechterverhältnisse, sondern auch für die Demokratie. Es wird so getan, als ob die Geschlechterfrage von Gott oder der Natur vorgezeichnet und damit nicht diskutierbar ist. Das ist der Versuch der Entpolitisierung. Dabei ist das Gegenteil nötig: Die Frage „Wie wollen wir leben?“ muss politisch ausgehandelt und debattiert werden. Und klar ist: Das Modell „Zurück in die Zukunft“ löst das Problem nicht. Wenn Mutti wieder zu Hause am Herd steht, ist das Anerkennungsproblem nicht gelöst. Sonntagsreden an Muttertag haben wir seit Jahrzehnten. Aber das führt eben überhaupt nicht zu weniger Frauen- und Altersarmut oder zu weniger häuslicher Gewalt.
Frauen sind keine homogene Gruppe. Macht es das politisch schwieriger?
Grundsätzlich müssen wir uns in der Geschlechterpolitik noch viel mehr Gedanken machen, dass Menschen diverser werden. Mit Blick zum Beispiel auf kinderlose oder homosexuelle Frauen: Es ist ja nicht so, dass sie keine Fürsorgepflichten haben. Sie haben vielleicht pflegebedürftige Angehörige oder Freund*innen. Komplexe Netze von sozialer Fürsorge fernab der Kernfamilie wurden bisher nicht mitgedacht. Da ist Familienpolitik gefragt, noch viel kreativer zu werden. Die Linke hat vor einigen Jahren den Begriff der „Wahlverwandtschaften“ erfunden. Ich finde, das ist ein treffendes Wort.