Logo Katholische Frauengemeinschaft Deutschlands Mitglied
werden

Von den Sorgen um die Sorge

3,1 Millionen Deutsche werden von ihren Angehörigen zu Hause gepflegt. Überwiegend, nämlich zu drei Vierteln, erledigen Frauen diese Arbeit. Dabei bereitet die Sorge um den Angehörigen vielen Menschen Sorge: Denn einerseits geraten pflegende Angehörige häufig in eine schlechtere finanzielle Lage. Einem Viertel der pflegenden Frauen droht Armut. Außerdem gibt es kaum Beratung oder Hilfe für die Pflegenden. 

Junia gibt Einblicke in den Alltag von Pflegenden und lässt Expertinnen zu Wort kommen. Denn die Situation der pflegenden Angehörigen muss sich verbessern – sonst kollabiert das deutsche Pflegesystem.

Von Isabelle De Bortoli

Gudrun Born und Bettina Hellmann haben beide langjährige eigene Pflegeerfahrungen, beide sind kfd-Frauen und Buchautorinnen. Sie wollen andere Frauen unterstützen, gut durch die Zeit der Pflege zu kommen.

Es ist eine Arbeit, die von Staat und Gesellschaft kaum gesehen, völlig unterschätzt und erst recht nicht bezahlt wird: die Pflege von Angehörigen. Während die Pflege in Heimen der Gesellschaft Tausende Euro jeden Monat wert ist, bekommen die Angehörigen für die Pflege zu Hause bisher finanziell fast nichts. Dabei werden 3,1 Millionen von insgesamt 4,1 Millionen Pflegebedürftigen zu Hause versorgt, überwiegend, nämlich zu fast drei Vierteln, von Frauen. Jede und jeder dritte pflegende Angehörige plagt sich zusätzlich zu der Belastung durch die Pflege mit finanziellen Sorgen, so das Ergebnis einer aktuellen Studie des Sozialverbandes VdK (siehe auch Gastbeitrag auf Seite 11). Obwohl die Angehörigen professionelle Unterstützung, etwa durch einen Pflegedienst, bräuchten, verzichtet mehr als die Hälfte darauf, weil sie zu viel zuzahlen müssten. 

Ich gebe die Hoffnung nicht auf, zu gerechteren Rahmenbedingungen für pflegende Angehörige beitragen zu können.

Das Thema „Armut durch Pflege“ beschäftigt auch Gudrun Born. Die 91-jährige kfd-Frau lebt in Frankfurt am Main und hat sich nach dem Tod ihres Mannes vorgenommen, pflegende Angehörige zu informieren und zu unterstützen. Dazu hat sie mehrere Bücher geschrieben (unter anderem „Balanceakt, pflegende Angehörige zwischen Liebe, Pflichtgefühl und Selbstschutz“ und „Klartext – Armut durch Pflege ist ein Skandal, wann wird er abgeschafft?“). Sie selbst pflegte ihren Mann von 1982 bis 1999 nach einem Hirninfarkt zu Hause – fast ohne Unterstützung, denn die Pflegeversicherung wurde erst 1995 eingeführt. „Heute lotse ich Betroffene durch den Paragrafen-Dschungel der Pflegeversicherung und helfe denen, die Widerspruch gegen einen Pflegebescheid einlegen wollen“, sagt Born. „Ich gebe die Hoffnung nicht auf, zu gerechteren Rahmenbedingungen für pflegende Angehörige beitragen zu können.“

kfd setzt sich für Kuren für pflegende Angehörige ein

Ebenso wie Mütter und Väter leisten pflegende Angehörige wertvolle Sorgearbeit in Familien. Als Teil der KAG (Katholischen Arbeitsgemeinschaft) Müttergenesung hat sich die kfd gemeinsam mit den Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege und dem Müttergenesungswerk für Kuren für pflegende Angehörige eingesetzt. 

„Es gibt vier Häuser, die speziell auf Kuren für pflegende Angehörige ausgelegt sind“, sagt Lucia Lagoda, Bundesvorsitzende der KAG Müttergenesung und Mitglied des kfd-Bundesvorstands. „Das sind die Kliniken auf Norderney, Borkum, in Winterberg und Wertach im Allgäu.“

Die Beratungsstellen der KAG Müttergenesung, die es in ganz Deutschland gibt, beraten pflegende Angehörige (ebenso wie natürlich Mütter und Väter) rund um den Antrag für die Kur und unterstützen bei Fragen zur Betreuung der Pflegeperson während der Kur. „Die Beratungsstellen schauen auf die individuelle Situation, und auch in den Kliniken werden die Menschen ganzheitlich gesehen und behandelt“, so Lagoda. Mehr Informationen sowie die Nummer der Beratungshotline unter 

www.kag-muettergenesung.de

Die Aussage „alle sind pflegeversichert“ erwecke den Eindruck, damit sei bestens vorgesorgt, so Gudrun Born. „Was aber viele nicht ahnen und viel zu spät realisieren: Die Pflegeversicherung deckt pflegebedingte Kosten für professionell geleistete Pflege (zu Hause oder im Heim) nur ,teilkasko' ab, also nur teilweise. Die Pflegebedürftigen bekommen Pflegegeld nur, wenn eine Privatperson verbindlich zusagt, die Pflege sicherzustellen. Zudem wird es gekürzt oder gestrichen, wenn professionelle Hilfe genutzt wird. Pflegende Angehörige (Pflegepersonen) dürfen maximal 30 Stunden pro Woche erwerbstätig sein und müssen ihren Lebensunterhalt selbst aufbringen, auch wenn sie wegen der Schwere einer Pflege ihre Erwerbstätigkeit ganz aufgeben müssen. Die Realität ist: Wer Schwerst- oder Demenzkranke zu Hause pflegt, hat an 365 Tagen 24 Stunden Präsenzpflicht.“

Wer zu Hause pflegt, darf nicht arm werden. 

Gudrun Borns größtes Anliegen: „Wer zu Hause pflegt, darf nicht arm werden. 65 Prozent der Pflegehaushalte nehmen keine Sachleistungen in Anspruch, weil ihnen dann das Pflegegeld gekürzt wird. Wenn sie die Zusatzkosten für Kurzzeit-, Tages- oder Nachtpflege nicht stemmen können, erhalten Pflegepersonen keine Entlastung.“ Problematisch sei, dass häufig Frauen, die ohnehin finanziell schlecht gestellt seien, die Pflege übernähmen. „Besonders unfair: Wer nicht zu Hause pflegt, muss erst ab einem Vermögen von 100.00 Euro die im Heim zu pflegenden Angehörigen finanziell unterstützen. Wer zu Hause pflegt, hat dagegen selbst kein Einkommen mehr und dennoch etliche Kosten“, so Born.

Seit 1995 gibt es – unter bestimmten Vorrausetzungen – immerhin Rentenbeiträge für pflegende Angehörige. Die zu erzielenden Rentenerhöhungen liegen, je nach Pflegegrad, für ein Jahr Pflegearbeit zwischen sechs und 34 Euro pro Monat. Aber: Die Rentenbeiträge werden gekürzt, sobald fachliche Hilfe in Anspruch genommen wird. „Dann hat man ja weniger Arbeit“, sagt Gudrun Born sarkastisch. 

Die Menschen werden über vieles nicht informiert. Pflegepersonen haben keine geregelten Arbeitszeiten, keinen Anspruch auf Pausen oder Erholung – ein Recht, das allen Erwerbstätigen zugestanden wird. Und sie wissen oft gar nicht, was ihnen zustehen würde.

Die kfd-Frau prangert vor allem an, dass viele pflegende Angehörige von all dem nichts ahnen, wenn sie die Pflege übernehmen. „Sie tun dies, weil sie sich um ihre Angehörigen sorgen. Und das ginge auch gar nicht anders, denn die Situation am Pflegemarkt ist katastrophal. Was passiert, wenn in den nächsten Jahren gut ausgebildete Frauen im ,Pflegealter' nicht mehr bereit sind, unter solchen Bedingungen zu pflegen oder sogar ihre Berufstätigkeit aufzugeben?“ Nur wenn zumindest Pflegepersonen mit einem Einkommen unterhalb einer auszuhandelnden Einkommensgrenze einen angemessenen finanziellen Ausgleich erhielten, würde die Pflegebereitschaft der Bevölkerung auch künftig zu erhalten sein, prognostiziert Gudrun Born in ihrem Buch. „Die Menschen werden über vieles nicht informiert. Pflegepersonen haben keine geregelten Arbeitszeiten, keinen Anspruch auf Pausen oder Erholung – ein Recht, das allen Erwerbstätigen zugestanden wird. Und sie wissen oft gar nicht, was ihnen zustehen würde.“

Tatsächlich werden nach Angaben des Sozialverbands VdK jedes Jahr Leistungen für die Pflege zu Hause im Wert von zwölf Milliarden Euro nicht abgerufen, häufig auch deswegen, weil sie nicht bekannt sind, ihre Beantragung zu zeitraubend ist oder die Angebote am Ort nicht vorhanden sind, wie etwa Kurzeitpflegeplätze. Viele der pflegenden Angehörigen fühlen sich extrem belastet und könnten die Pflege ihrer Angehörigen nur unter Schwierigkeiten oder gar nicht mehr bewältigen. Ein Thema, mit dem sich auch Bettina Hellmann beschäftigt hat, kfd-Frau und Autorin des Buches „Eule oder Nachtigall – Resilienz für pflegende Angehörige“. Resilienz, ein Begriff, der die psychische Widerstandskraft meint. Bettina Hellmann pflegte 21 Jahre lang ihre mehrfach schwerbehinderten Zwillinge zu Hause. „Als pflegende Angehörige hat man auch die Pflicht, an sich selbst zu denken. Man muss gut auf sich aufpassen. Wenn wir nicht mehr können, wer hilft dann den Pflegebedürftigen?“ Und dazu sei es zwingend notwendig, andere mit ins Pflege-Boot zu holen und die eigenen Bedürfnisse zu äußern. „Zum Beispiel haben unsere Angehörigen mit angepackt, um meinem Mann und mir freie Abende zu ermöglichen“, sagt Bettina Hellmann. „Alleine schafft man es nicht!“

Oft verspürten die Angehörigen auch einen Druck von Familie und Gesellschaft, die Pflege übernehmen zu müssen. „Da ist es wichtig, die eigene Grenze zu kennen und Stopp-Signale zu senden. Gerade, wenn ich die Pflege nur aus Pflichtgefühl übernehme, wird es schwieriger. Mein persönlicher Rettungsanker in der Pflegezeit war immer die Antwort auf die Frage: Warum mache ich das? Es war die große Liebe zu meinen Kindern. Das gab mir immer einen Energieschub.“

Was passiert, wenn in den
nächsten Jahren die gut
ausgebildeten Frauen in die 
Situation kommen sollen,
ihre Jobs für die Pflege eines 
Angehörigen aufzugeben,
ahnt niemand.

Hellmann plädiert dafür, sich immer auch mit dem Szenario zu beschäftigen, an dem es zu Hause eben nicht mehr weitergehen kann: „Man muss ans Loslassen denken. Die pflegenden Angehörigen werden in der Zeit der Pflege älter. Und irgendwann verschlechtert sich auch der Zustand der Pflegeperson so sehr, dass es einfach nicht mehr geht. Eine innere Bereitschaft zu entwickeln, zuzugeben, dass man nicht mehr kann, ist eben auch ein Teil der Pflege.“ Schnell einen guten Ort, ein Pflegeheim zu finden, sei utopisch, so Hellmann. „Besser ist es, sich frühzeitig mit dieser Frage zu beschäftigen. Denn sie wird mit der Zeit drängender.“

Stand: 27.02.2023