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Ein Fest der Fülle

Von Anna Maria Leenen

Streicht man mit der Kuppe des Zeigefingers über die Waldheidelbeere, ist sie samtweich, glatt und sonnenwarm. Eine einzige Stelle nur ist rau. Dort, wo bis zuletzt die Blütenblätter anhafteten, bis sich nach und nach die Beere formte. Zuerst grün, dann langsam mit jedem Sonnenstrahl in ein immer tieferes Blau. Das Blau der Waldheidelbeeren gehört zu den intensivsten dunklen Tönen im an Früchten so reichen Hochsommer. Wenn in diesen Wochen allerorten die Früchte reifen, ist es für Mensch und Tier ein Fest. Ein Fest der Fülle, ein Fest von Überschuss und Verschwendung. Nicht nur auf Getreide- und Maisfeldern, bei Kartoffeln und Kohl. In jeder Ecke, auf jedem Fleckchen Erde drängt es Pflanzen und Bäume dazu, Samen und Früchte auszubilden und so die Art zu vermehren.

Man könnte es als eines der wichtigsten Prinzipien dieses Planeten ansehen: werden, neu werden, sich ausbreiten. Es ist ein permanenter Prozess, Leben zu generieren. Zwei Formen sind dabei die wichtigsten Methoden, um es einmal etwas schlicht auszudrücken: Samen und Früchte. Samen sind Fortpflanzungsorgane, die ein Nährgewebe haben und als eine Art Schutzmechanismus die oft sehr stabile Samenhülle. Das hilft, um auch bei ungünstigen Witterungsbedingungen noch keimen zu können. Früchte dagegen haben meist eine dickfleischige Umhüllung, die dem darinnen liegenden Samen eine gute Startposition verschaffen.

Besonders die Früchte sind in ihrem Reichtum an Formen und Farben durch nichts in der Pflanzenwelt zu übertreffen. Allein die Farbpalette: Vom manchmal regelrecht leuchtenden Weiß bei Johannisbeeren und Laubholz-Mistel oder dem Gelb einiger Pflaumen, Äpfel und Weintrauben bis hin zum Farbreichtum der Rosenfrüchte. Ja, auch unsere Lieblingsgartenblumen bilden Früchte aus, die allerdings eher selten zur Vermehrung im Vorgarten verwendet werden. Und dann die Himbeeren mit ihrem Rosarot ebenso wie die Pfaffenhütchen, das Korallenrot von Aaronstab und Sauerdorn. Bei den Preiselbeeren und den bitteren Moosbeeren wird der rote Farbton dann zunehmend dunkler, bis zum Schwarz der Brombeeren, Holunderfrüchte und Traubenkirschen.

Diese Farben, diese Formen: Der Sommer schenkt uns in der Natur Eindrücke in Grün, Rot, Pink, Blau, Gelb, Orange. Dazu Früchte allerorts, in einer Vielzahl an Formen. Diese Schönheit und Vielfalt zu erkennen, sie zu begreifen und zu bewundern, hat einen klaren Aufforderungscharakter: Sie muss geschützt werden!

Ein einzigartiger Vorgang
Die Schönheit und der Formenreichtum sowie die staunenswerte Fülle der Inhaltsstoffe der Früchte in dieser Jahreszeit sind wundervoll. Doch wenn wir sie genießen, geht meist einiges an unserer Wahrnehmung vorbei: Denn was ist eine Frucht noch anderes mehr als Schönheit und Genuss? Jede Beere, jede Frucht ist vor allem ein einzigartiger Vorgang, das Überleben der jeweiligen Art zu sichern. Dabei haben die Pflanzen, wenn man es mal mit menschlichen Augen betrachtet, eine ganze Kiste voller Tricks auf Lager. Pflanzen können sich ja nicht vom Fleck rühren, eventuell vielleicht ein paar Ausläufer bilden, was aber in der Regel nur wenige Zentimeter neues Land bedeutet. Früchte und Samen sind es, die eine Verbreitung garantieren. Im Zusammenspiel mit Wasser und Luft, mit krabbelnden, fliegenden oder kletternden tierischen Mitbewohnern verteilen sich Früchte und Samen in großer Reichweite. Das gehört zu den faszinierenden Verbreitungs- und Überlebensstrategien, welche die Schöpfung in den Jahrmillionen ihrer Entwicklung geschaffen hat. Sie lassen immer wieder staunen über die trickreiche Vielfalt, diesen Planeten immer wieder und immer neu mit Leben zu füllen.

Die Möglichkeiten, diese Fülle, diesen Reichtum mit den Sinnen zu genießen, ist groß. Aber intensiver und nachhaltiger wird die Erfahrung dieser Wochen, wenn sie in kleinen Schritten meditativ nachgespürt werden wird. Schöpfungsmeditation ist eine Form, die uns umgebende Vielfalt und Schönheit mit besonderer Tiefe wahrzunehmen.

Sich mit allen Sinnen auf die Schöpfung einzulassen, ihre Formen und Farben, die unglaubliche Vielfalt wahrzunehmen, ist Freude und Bereicherung.

Die Vielfalt der Schöpfung ist Leben pur
Sich mit allen Sinnen auf die Schöpfung einzulassen, ihre Formen und Farben, die unglaubliche Vielfalt wahrzunehmen, ist Freude und Bereicherung. Es tut einfach gut, schenkt Erholung, Frieden und öffnet das Herz für Glücksmomente. Aber reicht das? Allzu oft verschleiert ein Nutzungsgedanke den wahrnehmenden Blick. Diesen Gedanken nennen manche Theologen/Theologinnen und Ökologen/Ökologinnen arrogant und sehen in ihm den Grund für Klimawandel und Naturzerstörung. Schöpfung muss wahrgenommen werden als ein Gegenüber, das den liebenden Blick verdient. So sieht es Sallie McFague (*1933), amerikanische Theologin. Sie entwickelte eine Schöpfungsspiritualität, die die Welt, die die gesamte Schöpfung mit eben diesem liebenden Auge anzuschauen sucht. Daraus erwachse nach ihrer Erfahrung ein Miteinander, das der Beziehung zwischen Freundinnen und Freunden entspricht. Die Natur als Subjekt!

Schöpfungsmeditation geht einen besonderen Weg. Der Mensch, der ihn geht, wandert auf diesem Weg mit einem wachsenden, Gott zutiefst vertrauendem Herzen. Einem Herzen, das mehr und mehr bereit werden wird, Schöpfung als riesiges Geschenk zu sehen, das aus dem Herzen Gottes heraus dem Menschen angeboten wird. Schöpfung ist geschaffen als unverdientes und unverdienbares Geschenk. Genauso wie der Mensch, der sie betrachtet, sie meditiert, ebenso Geschenk ist. Eigentlich müsste es jeder Mensch wissen, müsste es ihm bewusst werden im Lauf seines Lebens: Es gab keine Notwendigkeit, keine Verpflichtung, keinen Zwang, ihn in das Leben zu rufen. Jeder Mensch ist Geschöpf, gehört in den unendlichen Raum der Schöpfung hinein. Dieses Geschöpf-Sein, diese Geschöpflichkeit ist wie eine Signatur des Menschen, die ihn zutiefst mit der gesamten Schöpfung verbindet. Die Schöpfung zu meditieren und sich als ein Teil davon zu begreifen, heißt natürlich auch, sich daran zu erfreuen. Daran gibt es keinen Zweifel. Doch ist damit auch eine Verantwortung verbunden. Diese Schönheit und Vielfalt zu erkennen, sie zu begreifen und zu bewundern und zu erkennen, wie tief alles mit allem und mit dem Menschen verbunden ist, hat einen klaren Aufforderungscharakter: Sie muss geschützt werden! Wahrhaftig zu schützen bedingt aber immer auch, das, was ich schützen will, zu kennen. Nur was ich kenne, kann ich wertschätzen. Nur was ich wertschätze, schütze ich. Schöpfung zu kennen, wertzuschätzen, öffnet dabei immer auch die inneren Augen für den, der sie erschaffen hat. Dem katholischen Theologen Karl Rahner wird ein Zitat zugeschrieben, das genau darauf hinausläuft: „So aber geraten wir mitten in der nüchternen Alltäglichkeit des Lebens doch immer vor das Geheimnis, das unendlich ist, das immer da ist und sich immer unberührbar entzieht. Wir heißen es Gott.“

Schöpfung ist Verkündigung. Lasse ich mich auf sie ein, ist mein Weg zu Gott und zu einer tiefen Beziehung zu ihm ein wunderbar gangbarer Weg.

Stand: 27.06.2023