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75 Jahre Kriegsende & Corona-Pandemie:

Was lehrt uns der Ausnahmezustand?

Am 8. Mai jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 75. Mal. Nur noch die Ältesten unter uns haben an diese Zeit Erinnerungen. Der größte Teil der nach 1945 in Deutschland Geborenen hat keine Erfahrung mit Notlagen, Ausnahmezuständen, mit Entbehrungen und - zumindest gilt das für die alte Bundesrepublik - auch nicht mit Einschränkungen der individuellen Freiheit. Bis vor knapp sechs Wochen nahezu alles, was unser Leben und unseren Alltag bestimmte, wegzubrechen begann. Ein Gespräch mit dem Historiker Thorsten Heese. 

Von Jutta Laege

Frau und Mutter: Als der Krieg vor 75 Jahren zu Ende ging, war da mutmaßlich Erleichterung, aber auch so viel Unbekanntes.

Thorsten Heese: Für den Großteil der Bevölkerung bedeutete das Kriegsende sicher spontan eine Form von Durchatmen. Insbesondere für die Menschen in den Städten war es eine große Erleichterung, dass die Luftangriffe aufhörten. Die Groß- und Mittelstädte lagen weitgehend in Trümmern.

Vom anfänglichen Siegesrausch, dem Gefühl der Unverwundbarkeit und nicht zuletzt dem NS-Hype war schon länger nur noch wenig zu spüren. Wer genauer hinschauen wollte, dem musste längst klar sein, dass der Krieg spätestens seit dem Fall von Stalingrad an der Wende 1942/43 nicht mehr zu gewinnen war. Und an den Todesanzeigen war abzulesen, dass die eigenen Kriegsverluste deutlich zunahmen.

Waren die Erfahrungen überall gleich?

Nach dem, was wir von Zeitzeug*innen hören, können die Erfahrungen sehr unterschiedlich sein. Während die Bevölkerung in Berlin oder anderen Städten quasi jeden Tag im Bunker saß, war es in bestimmten ländlichen Regionen vollkommen ruhig. Fast wie ein Idyll, in dem man gar nicht richtig mitbekam, ob man im Krieg war oder nicht.

Gerade die Stadtkinder wurden klassenweise in diese Regionen "kinderlandverschickt", um sie vor den Bombardierungen zu schützen. Wenn sie es konnten, sind Familien auch selbstorganisiert in die Landverschickung gegangen.

Wie groß waren Not und Unsicherheit damals?

Schon während des Krieges wurden die Lebensmittel rationiert, aber für den Großteil der Bevölkerung war das noch alles tolerabel. In der Nachkriegszeit wurde die Versorgungslage dann tatsächlich nochmal schwieriger.

Nach der Kapitulation waren die Alliierten als Besatzungsmacht für die Versorgung verantwortlich. Wenn man sich die Kalorienanzahl pro Person anschaut, dann ging die erst einmal runter. Der Schwarzmarkt florierte; es wurde gehamstert - ein gerade ganz aktuelles Stichwort! Das alles hat die wirtschaftliche Situation bis zur Einführung der D-Mark 1948 geprägt.

Dazu kamen leider auch sehr harte Winter. Und die Wohnraumsituation war katastrophal, gerade im städtischen Bereich. Teilweise waren die Innenstädte zu 90 Prozent zerstört. Gleichzeitig kamen sehr viele Flüchtlinge und Vertriebene dazu, die ja auch Wohnraum brauchten. Da kam es schnell zu Konkurrenzsituationen - um Wohnraum und Lebensmittel.

Drängen sich für Sie Vergleiche zu den Flüchtenden heute auf?

Es gab schon große Konkurrenz, aber in der Wahrnehmung war es die eigene Bevölkerung, da riss man sich notgedrungen zusammen. Dennoch finden wir ähnliche Abgrenzungsmechanismen.

Die Vertriebenen, beispielsweise aus Ostpreußen oder Schlesien, waren ja irgendwie anders, sprachen Deutsch mit anderem Akzent. Sie wurden deshalb häufig als "Pollacken" beschimpft.

Und die andere Religion spielte auch eine wichtige Rolle. Es kam damals zu ernsthaften Konflikten, wenn ein Paar über die Konfessionsgrenzen hinweg heiraten wollte. Da blieb man lieber unter sich.

Allerdings war das auch eine Frage der Generation. Die Flüchtlingskinder lernten in den Schulen ja gemeinsam mit den einheimischen Kindern. Die hatten weniger Probleme, wuchsen gemeinsam auf, verliebten sich vielleicht und heirateten dann - notfalls auch gegen soziale und familiäre Widerstände.

Zu richtigen gesellschaftlichen Konflikten ist es nicht gekommen, weil ja auch viel zu tun war. Die Städte mussten wieder aufgebaut, die Wirtschaft wieder in Gang gebracht werden. Insofern konnten alle - auch Flüchtlinge und Vertriebene - mit anpacken.

Die Vertriebenen bekamen eigene Wohnsiedlungen. Zeitzeug*innen erzählen aber, dass sie eher still waren, weil sie nicht auffallen oder sich durch ihren Akzent verraten wollten. Und sie waren besonders fleißig, weil sie meinten, besser als die anderen sein zu müssen. So haben sie es auch ihren Kindern vermittelt. Die wurden so nicht selten strebsame, erfolgreiche, aber eher zurückhaltende Menschen.

Die Kanzlerin verglich in ihrer ersten Fernsehansprache zur Corona-Krise die Situation mit der am Ende des Zweiten Weltkriegs. Was hat sie gemeint, und welche Ähnlichkeiten machen Sie aus?

Als Historiker würde ich zunächst sagen: Die Situationen sind grundsätzlich nicht miteinander vergleichbar.

Was Angela Merkel vielleicht eher gemeint hat, ist dieses Gefühl der Ausnahmesituation, der Verunsicherung und Ungewissheit. Da ist etwas, das wir nicht so genau abschätzen können. Wir können nur von Moment zu Moment schauen.

Frau Merkel und die anderen Verantwortlichen erklären gerade aber sehr genau das erforderliche politische Handeln. Die Transparenz und die Form der Kommunikation sind ganz anders, offener.

1945 hat ein diktatorisches Regime ein Land sehenden Auges in die Katastrophe geführt, nachdem es der Gesellschaft zuvor eine verbrecherische Ideologie implementiert und den Zweiten Weltkrieg vom Zaun gebrochen hatte - eine ganz andere Situation.

Als Vergleich zu heute fällt mir eher das Reaktorunglück von Tschernobyl 1986 ein. Da gab es auch eine Atmosphäre der Verunsicherung und Angst. Man wusste nicht, wie weit wir davon betroffen sind. Die Informationen aus der UdSSR flossen nur verzögert und spärlich. Die Fachleute haben erst einmal versucht, den Schleier der Desinformation zu lüften, um die wahre Lage ermitteln zu können.

Jetzt, bei Corona, wurden aber schon frühzeitig Maßnahmen getroffen und Informationen geliefert. Man hat Regularien, die der Situation jeweils angepasst werden. Und unsere Politik verschleiert nicht.

Zurück zum Kriegsende: Wie haben die Kriegskinder, die auch als die "vergessene Generation" bezeichnet werden, diese Zeit verarbeitet, und wie sind sie daran gewachsen?

Das hängt sehr stark von dem Umfeld ab, in dem sie aufgewachsen sind. Diese Generation ist zwar von der NS-Ideologie beeinflusst worden, machte die Hitlerjugend und den BDM (Bund Deutscher Mädel) mit. Aber die Erfahrungen können doch sehr unterschiedlich sein.

Es sind einige dabei, die sich bewusst dieser Geschichte stellen, um sie zu verarbeiten. Häufig weinen sie, wenn sie erzählen. Das sind zum Teil traumatische Erfahrungen.

Ein Mann, Jahrgang 1931, berichtete, dass ein sowjetischer Soldat ihn, seine Mutter und seinen Bruder fast erschossen hätte, wenn sich nicht ein polnischer Zwangsarbeiter schützend vor sie gestellt hätte. Dieses Erlebnis, dem Tod unmittelbar ins Auge zu blicken, bewegt den Mann bis heute tief. Aber er hat sein Leben danach ausgerichtet, ist gläubig und pazifistisch geworden und engagiert sich bewusst in einer KZ-Gedenkstätte.

Ein anderer Zeitzeuge, Jahrgang 1936, stammt aus einem durch seine Familie stark nationalsozialistisch geprägten Milieu. Er erzählte, dass er im Krieg unbedingt Soldat werden wollte, um seinen Vater zu rächen, der an der Front gefallen war. Für ihn brach 1945 zunächst eine Welt zusammen.

Von seiner NS-Prägung konnte er sich aber lösen, als er nach dem Krieg im Bergbau arbeitete. Dort zeigte ihm ein sozialdemokratisch-gewerkschaftlich geprägtes Milieu einen Weg auf, mit seiner Geschichte fertig zu werden. Als Ausbilder konnte er später junge rechtsradikale Leute selbstbewusst und gezielt mit ihren kruden Vorstellungen konfrontieren.

Was hat diese Generation ihren Kindern und Kindeskindern grundsätzlich mitgeben können, was nicht?

Die Kriegskinder waren eher mit sich selbst und dem Wiederaufbau beschäftigt. Das hat sie zwangsläufig sehr viel Energie gekostet, und somit war für andere Dinge nicht mehr viel Platz. Am ehesten haben sie bestimmte Überlebensstrategien weitergegeben.

Man denke an das Horten von Lebensmitteln; eine Form von Sparsamkeit! Oder an das Einkochen, das gerade wieder modern wird. Selbst das "Hamstern" - siehe "Corona-Zeiten" - haben wir offensichtlich internalisiert. Hier geht es um ein spezielles kulturelles Verhalten.

Noch Jahrzehnte nach Kriegsende haben wir für unser Museum alte Milchpulverdosen geschenkt bekommen; von 1945/46!

Die hatten junge Mütter in der Notzeit zum Füttern ihrer Kinder erhalten, aber nicht verbraucht und stattdessen zurückgelegt. 

Dahinter steckte die Angst, es könnten doch wieder schlechte Zeiten kommen. Diejenigen, die die Zeit aufgearbeitet, die Dinge offen ausgesprochen haben, können sehr stolz sein! Aber leider lastet immer noch ein großes Schweigen auf dieser Zeit.

Können Sie dieses große Schweigen näher erläutern?

Wir hören immer wieder den Vorwurf von Kriegsenkeln an ihre Eltern: Ihr habt ja nichts erzählt! Ihr habt einfach geschwiegen! Doch diese Kriegskinder, die Schätzungen zufolge zu rund 25 Prozent traumatisiert waren, hatten gerade genug Kraft, um selbst zu überleben - auch mental.

Wenn sie dann eine Familie gründeten, schafften sie es, dass die Kinder ein Dach über dem Kopf hatten, für sie genug zu essen auf dem Tisch stand und sie geregelt zur Schule gehen konnten. Der Schutz stand über allem: "Was ich erlebt habe, war so schrecklich; das sollen meine Kinder nicht ertragen müssen. Sie sollen es besser haben." 

So ist das, was Menschen ja sonst auch dringend benötigen - Nähe, Zuneigung, Zuwendung - auf der Strecke geblieben. Wenn die Mütter und Väter dieser Zeit Gefühle zugelassen hätten, wären sie vermutlich 'explodiert', denn dann hätten sich sicher ihre eigenen verdrängten Gefühle gemeldet. Da gehört sehr viel Mut dazu.

Was hat dieses Verhalten und Schweigen mit den Kriegsenkeln gemacht?

Die Vorwürfe der Kriegsenkel, also der zwischen 1955 und 1975 Geborenen, waren für die Kriegskinder nur schwer zu verstehen. Selbst für den Fall, dass sie keine großen Verbrechen zu verschweigen hatten, konnten sie doch mit den Fragen und Vorwürfen meist nicht richtig umgehen. 

Das hat zu Konflikten geführt. Auch wenn ihr Aufklärungsbedarf natürlich berechtigt ist, haben sich die Kriegsenkel da oft festgebissen. Besser geht es ihnen erst, wenn sie das Verhalten der Eltern einordnen können. Mangels des direkten Austausches kann dieser Prozess häufig nur über die Auseinandersetzung mit sich selbst gelingen. Warum beschäftigt mich das? 

Wir Kriegsenkel sind ja alle in unbeschwerten Zeiten aufgewachsen. Der Krieg war - jedenfalls in Deutschland - lange vorbei. Die Alten erzählten zwar hier und dort, aber selten über den Kern der Sache. Und man bezog oder bezieht das nicht unbedingt auf sich selbst. Da tauchen womöglich unerklärliche psychische Probleme auf; man ist nicht beziehungsfähig oder hat Schwierigkeiten mit der Sexualität. 

Dann begibt man sich irgendwann in psychologische Betreuung und wird gefragt: "Was erzählen eigentlich Ihre Eltern oder Großeltern über den Krieg?" Und dann wird plötzlich klar: Da existieren in der Familie Ängste, Verlust- und Gewalterfahrungen, etwa eine Vergewaltigung, die Auslöser der eigenen Probleme sind. Bei Traumata spricht man da von intergenerationaler Weitergabe; verkürzt gesagt, kann fehlende Aufarbeitung das Problem in die nächste Generation verlängern.

Das Kriegsende markierte den Wendepunkt hin zu einem völlig neuen System, einer neuen Weltordnung. Zeichnen sich da jetzt schon Parallelen zu dem ab, was nach der Corona-Krise kommt?

Ich glaube nicht, dass sich das System grundsätzlich verändert oder unsere Gesellschaft vollkommen umgekrempelt wird.

Im Moment werden wir aus gewohnten Mustern herausgerissen. Da ist etwas Unkalkulierbares eingetreten. Wird sind verunsichert, reagieren nicht so wie gewohnt und werden erst einmal auf unsere Ursprungskodierung zurückgeworfen; die archaischen Instinkte, aber auch die Grundmuster, die uns als Baby und als Kind mitgegeben wurden.

Doch allmählich setzen die nächsten Reflexions- und Lernschritte ein. Das können wir bei Corona sehr gut beobachten: Wir merken, dass wir nicht einfach weglaufen oder uns verstecken können, und versuchen deshalb, uns so gut und so schnell wie möglich an die neue Situation anzupassen; das ist individuell wie gesamtgesellschaftlich ein Lernprozess.

Genau das haben die Menschen am 8. Mai 1945 auch gemacht. Es war ein gewisser Abschluss, aber es war keine "Stunde Null". Man muss mit der Krise irgendwie umgehen, beobachten, beurteilen und handeln. Wir werden uns durch die Erfahrungen, die wir jetzt machen, sicher weiterentwickeln. Und das wird wahrscheinlich auch sein Gutes haben.

Das Kriegsende liegt nun 75 Jahre zurück. Unabhängig davon, wie viel die Alten erzählt haben, bald kann man es nur noch aus Büchern erfahren?

Ich glaube dann doch, dass unsere Gesellschaft das kollektiv weiterträgt. Es ist fester Teil unserer "sozialen DNA"; denken Sie an die Aufarbeitung des Holocaust und die NS-Erinnerungskultur. Und ich setze viel Hoffnung und Vertrauen in unser Staatssystem und in die junge Generation, die viel offener miteinander redet, Dinge auch viel spontaner anspricht und diskutiert.

 

Thorsten Heese ist Historiker und Kurator für Stadt- und Kulturgeschichte am Museumsquartier Osnabrück (MQ4). 

2005 fand dort eine Ausstellung mit Alltagsgegenständen aus dem Kriegsjahr 1945 statt. Daraus entstand 2005 das "Forum Zeitgeschichte", 2010 dann das "Forum Kriegskinder und Kriegsenkel", das monatlich Betroffene und Interessierte zum Austausch einlädt. Im Mittelpunkt der Reihe steht die Spurensuche in Familiengeschichten aus der NS- und Nachkriegszeit.

Kriegskinder und Kriegsenkel: Erinnerungskultur und Aufarbeitung 

Die Fragen nach Opfern und Tätern, nach Verantwortung und Verhalten - vieles blieb verschüttet. Die letzten lebenden Zeitzeugen, die so genannten Kriegskinder, haben die Erinnerung tief in sich vergraben, manche sind traumatisiert. Die nachfolgende Generation, die so genannten Kriegsenkel, tragen Leid und Unausgesprochenes unbewusst mit, manchmal mit ebenso schwerwiegenden psychischen und seelischen Folgen.

Das "Forum Kriegskinder und Kriegsenkel" des Museumsquartiers Osnabrück geht in offenen Diskussionsrunden den Spuren der NS- und Kriegszeit in den Familiengeschichten nach und hilft bei der kritischen und verantwortungsbewussten gesellschaftlichen Auseinandersetzung der NS-Geschichte in unserer Gegenwart.

www.museumsquartier-osnabrueck.de 

 

Es gibt inzwischen zahlreiche Bücher und Filme zum Thema. Sabine Bodes "Kriegskinder - Die vergessene Generation" und das Nachfolgebuch "Kriegsenkel" von 2004 und 2009 gehören inzwischen zum Standardwerk.

Gerade erschienen ist das Buch zum Film "Der Krieg in mir" (Filmstart war der 5. März, vielfach aber wegen Corona verschoben). Ein Kriegsenkel, Sebastian Heinzel, begibt sich auf Spurensuche - basierend auf der These, dass traumatische Kriegsereignisse genetisch weitervererbt werden können.

www.derkrieginmir.de 

Stand: 28.04.2020