Watt, Wind, Weite: Vom Gefühl der Freiheit auf Borkum
Von Nadine Diab-Heinz
Die wirklich wichtigen Dinge im Leben definiert wohl jeder Mensch für sich selbst und anders. Ich bin mir nicht sicher, ob wir nicht vielleicht alle schon mit einem ganz eigenen Kompass geboren werden, der uns durch das Leben navigiert, den wir von Zeit zu Zeit nur leider einfach vergessen, um ihn dann aber an Wendepunkten wieder herauszuholen und uns an ihn zu erinnern.
Sicher bin ich mir – was mich angeht – in einem Punkt: Mein Lebenskompass ist auf Freiheit eingestellt. Und mein Leben lang war und bin ich auf der Suche nach diesem für mich so tiefen und ungezähmten Gefühl, das ich mal mehr und mal weniger stark empfinde. Ich glaube, deswegen sind wir auch auf dieser Insel gelandet, denn Borkum hat mir schon immer dieses Gefühl gegeben. Wenn der Wind um meine Nase weht, meine Spuren im Sand verwischt auf einer dieser ewig langen Wanderungen, die kein Ende nehmen, fühle ich mich grenzenlos, sicher und frei. Dann ist all das Zaghafte, Scheue und Ängstliche von mir genommen, das genauso Teil von mir ist wie das Ungestüme, Wilde und Mutige. Auf dieser Insel habe ich mich selbst besser verstehen gelernt. Ich bin so viele und nicht nur eine. Und ich habe mir die Erlaubnis gegeben, all das sein zu dürfen.
Begegne ich hier Menschen und erzähle ihnen meine Geschichte, nämlich, dass wir in Solingen unsere Wohnung aufgegeben, unsere Jobs gekündigt und einen Neuanfang hier auf der Insel gewagt haben, blicke ich meist in ungläubige Gesichter.
Begegne ich hier Menschen und erzähle ihnen meine Geschichte, nämlich, dass wir in Solingen unsere Wohnung aufgegeben, unsere Jobs gekündigt und einen Neuanfang hier auf der Insel gewagt haben, blicke ich meist in ungläubige Gesichter. Ja, aber es gibt doch überhaupt keinen bezahlbaren Wohnraum. Ja, aber es gibt doch keine guten Jobs. Ja, aber ... Doch, gibt es alles. Man muss nur wollen, machen und in die Umsetzung gehen. So einfach? Ja! Wenn man dann noch berücksichtigt, dass man mit dem Abenteuer auch eine große Portion Angst geschenkt bekommt und sich noch einigen Unsicherheiten stellen darf, dann kann man es ruhig wagen. Finde ich jedenfalls, sonst wäre ich heute nicht da, wo ich bin.
Doch bevor ich weiter von der Insel erzähle, möchte ich von einem Campingplatz berichten. Denn ich glaube, dieser Sommer am See legte erst wirklich den Grundstein für unseren Inseltraum. 2022 schlug die Nadel meines Freiheitskompasses wieder so sehr und so stark aus, dass ich sie nicht mehr ignorieren konnte, also entschied ich mich für einen Saisonjob auf einem Campingplatz in Düsseldorf. Ich wollte mal etwas ganz anderes machen als schreiben und größtenteils am Schreibtisch sitzen. Ich kündigte meinen gut bezahlten Job in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, in dem ich schon lange nicht mehr glücklich war, und fing für kleines Geld an der See-Rezeption an. Man muss dazu sagen, dass ich damals schon als Journalistin selbstständig gearbeitet habe, und finanziell habe ich den Wechsel natürlich sehr deutlich gespürt.
Und: Es war der beruflich absolut schönste Sommer meines Lebens. Ich verkaufte Eis, backte um sechs Uhr morgens tütenweise Brötchen für Camper auf, ich lernte eine Kasse zu bedienen, machte Kassenabschlüsse und checkte Gäste ein. Dazu gab es zum Teil herrlich skurrile Geschichten, die ich nie vergessen werde. Und ich lernte viel über mich. Denn ich sah mir beim Wachsen zu, und das machte mich unglaublich glücklich. Auch wenn mich einige Fehler wie falsche Kassenabschlüsse manchmal sehr unglücklich machten, doch auch das gehört dazu. In diesem Sommer konnte ich nicht nur ein bisschen meine große Angst davor, Fehler zu machen, heilen, sondern gab mir selbst ein Versprechen. Ich eröffnete mir selbst die Chance, meinem großen Wunsch nach Freiheit und Abenteuer – wenn möglich – immer nachzugeben, denn ich spürte, wieviel Wachstumspotential daraus für mich erwuchs.
Hätte man mir damals gesagt, dass wir heute hier wohnen würden, hätte ich laut gelacht und so ungläubig geschaut, wie die Menschen mich heute ansehen.
Das Versprechen habe ich seitdem nicht gebrochen. Es führte mich wiederum zur jetzigen Firma, für die mein Mann und ich nun beide arbeiten. Mein Mann ist Hausmeister auf der Insel für die rund 200 Ferienwohnungen, die die Vermittlungsagentur betreut, ich wiederum arbeite in Teilzeit redaktionell für das Unternehmen, bin aber auch für die Gästebetreuung sowie für Büroarbeiten zuständig. Die Vorbereitung dafür legte mein Saisonjob am See. Und es bleibt mir noch genug Zeit, um weiter an meinen persönlichen Träumen zu arbeiten: Schreibworkshops für Frauen auf der Insel zu geben und außerdem Reiki-Behandlungen anzubieten.
Vor zehn Jahren waren wir das erste Mal auf der Insel und haben uns sofort in sie verliebt. In diese Freiheit, in diesen Frieden, in dieses Watt und in diese Weite. Hätte man mir damals gesagt, dass wir heute hier wohnen würden, hätte ich laut gelacht und so ungläubig geschaut, wie die Menschen mich heute ansehen. Und doch ist so viel mehr möglich, als wir denken. Immer wieder lohnt sich ein genauer Blick auf den eigenen Lebenskompass. Denn es gibt noch eine Sache, die ich gelernt habe: Anfangen geht an jedem Tag.