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"Ich hielt mich für unverwundbar"

Die Pandemie hat Familien an ihre Grenzen gebracht – und darüber hinaus. Zwischen der Sorge um Angehörige, der Angst um den Job, Homeschooling und dem Druck der digitalen Arbeitswelt rieben sich Mütter und Väter auf, bis sie krank wurden. Wie unser Autor. Mit seinem Sohn machte er eine Vater-Kind-Kur.

Von Dirk Weber

Die Luft war raus, die Akkus leer. Es war ja nicht so, als ob mein Körper mich nicht gewarnt hätte. Nur hatte ich die Signale falsch verstanden, oder ich wollte sie nicht verstehen, jedenfalls redete ich mir ein, dass alles in Ordnung sei und ich einfach nur gestresst. Ein Schuldiger für die Misere war schnell gefunden: die Arbeit, was sonst.
Als mein Vater vor zwei Jahren starb, war das ein Schock für mich, aber ich machte weiter, als sei nichts gewesen. Als kurze Zeit später das mit Corona losging, redete ich mir ein, ach, das wird schon wieder, in ein paar Monaten kräht kein Hahn mehr danach. Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass das Virus mein Leben auf den Kopf stellen könnte. Nur noch Murmeltiertage. Alles grau, immer.
Nach dem ersten Lockdown wurden wir ins Homeoffice geschickt, was mir sogar gefiel, so ersparte ich mir den langen Arbeitsweg. Mehr Zeit für mich, dachte ich. Irgendwann begann die Kurzarbeit, und ich war froh. Mehr Zeit für meine Familie, dachte ich. Ich hatte wirklich geglaubt, die Situation könnte nicht schlimmer werden. Keine drei Monate später bekam ich die Kündigung. Eine ganze Abteilung wurde dichtgemacht. Doch ich hielt mich für unverwundbar. Corona – ich doch nicht, nicht mit mir. Und das mit dem Job würde sich fügen.
Was ich nicht verstand, war, dass ich die Kontrolle verlor. Die vergangenen Monate hatten mir zugesetzt, obwohl ich mir immer noch einredete, es sei alles in Ordnung, ich hätte alles im Griff. Dabei war da ständig diese Angst, diese Sorge, wie es weitergeht. Die Pandemie hat mich langsam mürbe gemacht, ohne dass ich etwas davon mitbekommen habe. Meine Frau war die Erste, die sagte, dass ich mich verändert hätte. Ich wusste nicht, wovon sie sprach. 

Kinder weiter psychisch hoch belastet

Die psychische Belastung von Kindern und Jugendlichen in der Corona-Pandemie ist laut einer Studie der Uniklinik Hamburg-Eppendorf weiterhin hoch. Psychosomatische Stresssymptome wie Gereiztheit, Einschlafprobleme und Niedergeschlagenheit seien im Vergleich mit der Zeit vor der Pandemie deutlich häufiger. Auch Kopf- und Bauchschmerzen haben zugenommen.

Ich wurde fahriger, konnte mich nicht mehr so gut konzentrieren, war immer müde, schweifte ab. Abends fehlte mir die Kraft, mich um meinen Sohn zu kümmern. Er heißt Jonar und ist acht. Es war nur noch anstrengend. Statt nach der Arbeit mit ihm zu spielen, ihm etwas vorzulesen oder ihn ins Bett zu bringen, wurde ich immer meckriger, zog mich zurück, ließ mich berieseln. Ich brauchte Ruhe und war am Limit. Eines Tages sprach mich meine Hausärztin an, was mit mir los sei. Ich hatte keine Ahnung, was sie meinte. Sicher, ich fühlte mich jetzt häufiger schlapp als früher, das schon, aber sonst? Sie empfahl mir eine Kur. Eine Auszeit würde mir guttun. Ich käme für ein paar Wochen raus aus dem Hamsterrad. Ich dachte an meinen Sohn. Dass es uns beiden guttun würde, Zeit miteinander zu verbringen. Zeit, die mir im Alltag fehlte. Also stellte ich bei meiner Krankenkasse einen Antrag für eine Vater-Kind-Kur – und bekam prompt eine Absage. Aufgrund meiner Diagnose, hieß es, sei eine Vater-Kind-Kur nicht geeignet, meine Beschwerden zu lindern. 

Empört legte ich Widerspruch ein und schrieb ihnen, dass die Beschwerden sehr wohl in einem direkten Zusammenhang mit meiner Rolle als Vater zu sehen seien. Dass nämlich mein Job einen Großteil meiner Zeit auffressen würde und ich mich nicht angemessen um mein Kind kümmern könnte, weil das Erste, an das ich denken müsste, wenn ich morgens aufwachte, meine Arbeit sei, und mit eben diesem Gefühl ginge ich abends auch ins Bett. Die Arbeit, schrieb ich, dominiere mein (Familien-)Leben. Viele Aufgaben müsse meine Frau übernehmen, weil ich dazu einfach nicht mehr in der Lage sei. 

Vor ein paar Jahren stand ich schon einmal kurz vor einem Burnout, und unter keinen Umständen wollte ich das Risiko eingehen, dass sich das wiederholt.

Es war ein Hilferuf. 

Vor ein paar Jahren stand ich schon einmal kurz vor einem Burnout, und unter keinen Umständen wollte ich das Risiko eingehen, dass sich das wiederholt. Die Vater-Kind-Kur sollte mir helfen, wieder auf die Beine zu kommen, ja. Aber sie sollte auch helfen, meiner Familie näher zu kommen. Einen Monat später bekam ich Post. „Wir übernehmen die Kosten für Ihre Kur“, schrieb meine Krankenkasse. Und Jonar durfte mich begleiten.

Dass die Väter den Müttern beim gesetzlichen Anspruch auf eine stationäre medizinische Vorsorge- beziehungsweise Rehabilitationsmaßnahme gegenüber den Krankenkassen gleichgestellt sind, ist erst seit 2002 der Fall. Auch das Müttergenesungswerk war bis 2013 ausschließlich für die Belange von Müttern zuständig. Erst seit Gründung der „Zustiftung Sorgearbeit“ wurden auch Väter und pflegende Angehörige in der Sorgearbeit mit einbezogen. „Männer haben andere Wahrnehmungs- und Deutungsmuster im Umgang mit Gesundheit und Krankheit, ein anderes Verhältnis zu ihrem Körper, andere Reaktionsmuster oder Modi der Verarbeitung und Kommunikation“, erklärt Geschäftsführerin Yvonne Bovermann. „Zum Beispiel werden Krankheiten häufiger verdrängt, bis sie chronisch werden und der Arztbesuch sich nicht mehr aufschieben lässt.“ 

Im Vergleich zu den Müttern, die eine Kur machen, ist der Anteil von Vätern immer noch sichtbar geringer.

So war es auch bei mir. Den Besuch bei meiner Hausärztin hätte ich noch länger hinausgezögert, wenn ich nicht mit Vorhofflimmern und Herz-Rhythmus-Störungen ins Krankenhaus gekommen wäre. Es war nicht das erste Mal, dass ich das Gefühl hatte, mit meinem Herzen könnte etwas nicht in Ordnung sein. Vor allem in stressigen Situationen spürte ich es häufiger wummern und stolpern. Aber ich dachte, das sei normal so. Kein Grund zur Sorge. Ich war wie verblendet. Im Krankenhaus meinten sie, ich sollte unbedingt Stress vermeiden. 

Wenige Wochen später begann die Kur. Ich wollte so weit weg von der Arbeit wie nur irgend möglich, also entschied ich mich für eine Klinik an der Ostsee, 680 Kilometer entfernt. Drei Wochen nur wir zwei. Es war das erste Mal, dass wir so viel Zeit miteinander verbrachten. Was mit der Schule sei, wollte Jonar wissen. „Du hast frei“, antworte ich. Er grinste. „Eine Kur“, erklärte ich ihm, „ist wie Urlaub und Krankenhaus in einem.“ Und dass ich ein bisschen krank sei und Hilfe bräuchte, und dass ich ihn gerne an meiner Seite hätte. 

Im Vergleich zu den Müttern, die eine Kur machen, ist der Anteil von Vätern immer noch sichtbar geringer. Laut aktuellem Datenreport des Müttergenesungswerks haben 2019 rund 47.000 Mütter an einer Kur teilgenommen, aber nur 2100 Väter. Das entspricht einem Verhältnis von 1:22. 2020 waren es coronabedingt sogar nur 31.000 Mütter und 1600 Väter. Die meisten Väter sind älter – 80 Prozent sind zwischen 36 und 55 Jahre alt, Mütter zwischen 26 und 45 Jahre.

Männerberatung

Wenn Jungen, Männer und Väter Beratungs- und Unterstützungsangebote für sich suchen, wissen sie häufig nicht, wo und wie sie diese finden können. 

Viele der vorhandenen Beratungsangebote sind geschlechtlich allgemein gehalten und sprechen Jungen, Männer und Väter nicht direkt an. Deshalb hat das Bundesforum Männer die Internetseite www.maennerberatungsnetz.de
geschaffen. Dort sind spezielle Beratungsangebote für Männer zu vielen Themen wie etwa Gesundheit, Vaterschaft, Alter, Partnerschaft oder Homosexualität deutschlandweit zu finden.

Dass Väter immer noch als Exoten in der Kur gelten, führt das Müttergenesungswerk darauf zurück, dass es trotz Gleichberechtigung immer noch die Mütter seien, die den Großteil der Familienarbeit leisten. „Auch wenn Väter sich immer mehr einbringen, ist der Anteil doch noch geringer“, sagt Yvonne Bovermann. Manchen Vätern sei zudem womöglich gar nicht bewusst, dass es dieses spezielle Kurangebot gibt. Oder sie befürchten, auf mangelnde Akzeptanz in Beruf und privatem Umfeld zu stoßen. „Verändern sich die gesellschaftlichen Rollenbilder und passen sich Rahmenbedingungen in Deutschland entsprechend an, wird sich dies auch bei den Kurmaßnahmen widerspiegeln. Wir sehen bereits Veränderungen. Immer mehr Väter nehmen das Angebot des Müttergenesungswerks wahr.“

Marc ist einer von ihnen. Ich lerne ihn mit hochgekrempelten Ärmeln und Hosenbeinen am Strand kennen, wo er mit der 10.30-Uhr-Gruppe gerade bewusster ein- und ausatmen soll. Marc ist Ende 30, Vater von einem Sohn (7) und einer Tochter (3). Er erzählt gleich von seiner Frau oder Ex-Frau, ganz sicher scheint er sich da noch nicht zu sein. Die beiden leben getrennt. Sie sei in eine andere Stadt gezogen und habe ihn mit den Kindern allein gelassen. „Ich war immer für sie da, habe sie gestützt und mich selbst dabei aus den Augen verloren. Ich dachte, es wird schon irgendwie gehen, dabei ging es schon lange nicht mehr.“ Er müsse jetzt zu Kräften kommen für sich, aber auch für seine Kinder, deshalb die Kur. 

Zu Kräften kommen, das will ich auch, deshalb bin ich hier. Meine Ärztin verschreibt mir für die kommenden Wochen Klimatherapie, Massagen, Hydrojettherapie, Rückengymnastik, progressive Muskelentspannung, Waldbäder. Zwischen den Anwendungen bleibt Zeit, um mich um mich selbst zu kümmern und um meinen Sohn. Das war auch dringend nötig, denn ihn habe ich wohl am meisten vernachlässigt. Nun könnte man sagen, was sind schon drei Wochen! Ein Anfang, mehr nicht. Aber auch nicht weniger. Ich weiß jetzt, dass ich 1. einen Ausgleich zu meiner Arbeit finden muss. Ich mir 2. Ziele stecken sollte, die auch erreichbar sind. Und ich 3. nicht unverwundbar bin. 

Marc erzählt, dass er sich einen Plan gemacht hat, wie die Tage nach der Kur aussehen sollen – eine Art Stundenplan mit Zeitfenstern, die er für sich und für seine Kinder nutzen möchte. Ich bewundere ihn dafür, aber so diszipliniert bin ich nicht. Zwar möchte ich ebenfalls nicht in alte Routinen zurückfallen, die drei Wochen sollen schließlich nicht umsonst gewesen sein. Dennoch brauche ich mehr Flexibilität. Als Erstes werde ich mich für ein Anti-Stress-Seminar anmelden. „Mit alltagstauglichen Tipps und vielen praktischen Übungen lernen Sie, dem Alltag mit Gelassenheit zu begegnen und Ihr Wohlbefinden zu steigern“, heißt es. Für den Anfang nicht schlecht. Noch besser wäre, sie hätten ein paar Tipps, wie ich gelassener mit der Corona-Pandemie umgehen kann. Aber Schritt für Schritt. Ich muss mich jetzt erst mal um mich selbst sorgen, damit ich mich wieder um andere sorgen kann.  

Stand: 28.04.2022