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Geschlechtersensible Medizin: Frauen werden anders krank

Die Corona-Pandemie hat es Medizinerinnen und Medizinern klar vor Augen geführt: Frauen und Männer erkranken auf unterschiedliche Art und Weise an Covid-19. Frauen erkranken häufiger, Männer schwerer. Somit zeigt das Virus eindrücklich, was die so genannte Gendermedizin schon länger fordert: Der weibliche Körper ist anders als der männliche, bis hinein in jede Zelle. Frauen und Männer brauchen unterschiedliche Anamnesen, Behandlungen, Rehas. Für eine gesündere Gesellschaft.

Von Isabelle De Bortoli 

Mit dem Herzen fing alles an: Kardiologinnen in den USA fragten sich in den 1990er-Jahren, warum Männer zwar häufiger als Frauen einen Herzinfarkt erleiden, Frauen diesen aber öfter nicht überleben. Es war die Geburtsstunde der geschlechtersensiblen Medizin, auch Gendermedizin genannt. Sie läutet eine Abkehr von einer Medizin ein, in der der Mann den Standard bildet. „Geschlechtersensible Medizin bedeutet, die beste Medizin für sie und ihn, für Jung und Alt zu finden. In der differenzierten Betrachtung von der Diagnose und Behandlung von Frauen und Männern liegt eine große Chance für unsere Gesellschaft“, sagt Annegret Hofmann, Sprecherin des Netzwerks „Gendermedizin & Öffentlichkeit“, in dem sich mehr als 250 deutschsprachige Expertinnen und Experten aus den unterschiedlichsten medizinischen Fachbereichen für geschlechtersensible Medizin miteinander austauschen. „Geschlechtersensible Medizin stellt die Frage, welche biologischen, psychologischen, sozialen Unterschiede es zwischen Mann und Frau gibt und welche Rolle sie für Gesundheit und Krankheit, für die Diagnose und Therapie von Krankheiten, für Prävention und Rehabilitation spielen.“

Der vitruvianische Mensch – vor allem bekannt durch das berühmte Gemälde Leonardo da Vincis – war offensichtlich ein Mann. „Krankheitsbeschreibungen und Therapieempfehlungen galten jahrhundertelang für Männer. Noch heute werden Medikamentenstudien vor allem mit jungen, weißen Männern durchgeführt – ja, es geht sogar so weit, dass in Vorstudien, im Labor, lieber männliche Mäuse als weibliche zum Einsatz kommen“, sagt Annegret Hofmann. Dabei zeigt die Wissenschaft inzwischen deutlich die Unterschiede zwischen den Geschlechtern: „In der Gendermedizin schaut man zum Beispiel vor allem auf die Hormone und ihre Verknüpfung mit dem Immunsystem“, erklärt die Expertin. „Es hat sich gezeigt, dass hier große Unterschiede zwischen Männern und Frauen herrschen, die sich auf Erkrankungen, Verläufe und Heilung auswirken. Der weibliche Körper ist anders als der männliche, bis hinein in die Zelle. Dabei kommen immer wieder neue Fragestellungen, aber auch Erkenntnisse zutage.“

„Bei Frauen wird ein Herzinfarkt oft erst zu spät erkannt, auch weil sie andere Symptome als die bekannten beschreiben und der Arzt diese Erkrankung deshalb bei ihnen einfach nicht vermutet“

Bekannt ist zum Beispiel inzwischen: Eine Tablette benötigt im weiblichen Verdauungstrakt etwa das Doppelte an Zeit, bis sie verarbeitet ist und wirken kann. Frauen brauchen daher bei bestimmten Medikamenten eine andere Dosierung. Und es sind die Erkrankungen mit den meisten Todesfällen in Deutschland, für deren Erkennung und Behandlung das Geschlecht eine entscheidende Rolle spielt: die Herz-Kreislauf-Erkrankungen und vor allem der Herzinfarkt. „Bei Frauen wird ein Herzinfarkt oft erst zu spät erkannt, auch weil sie andere Symptome als die bekannten beschreiben und der Arzt diese Erkrankung deshalb bei ihnen einfach nicht vermutet“, sagt Annegret Hofmann. Das Problem: Innerhalb einer Stunde sollte man nach den ersten Symptomen eine Klinik erreichen, um so viel Herzmuskelgewebe wie möglich zu erhalten. Frauen – wie auch ihre behandelnden Ärztinnen und Ärzte – verlieren durch Zögern zu viel Zeit. „Übelkeit, Atemnot, Schmerzen im Oberbauch und in der Brust, Müdigkeit sind häufige Symptome eines Herzinfarktes bei Frauen. Den oft als typisch beschriebenen Druck auf der Brust haben sie eher selten“, sagt Hofmann. „So kommt die Diagnose oft zu spät – das ist auch heute noch so.“

Unterschiede gebe es übrigens auch in der Reha: Während Männer häufig mit um die 50 Jahren einen Herzinfarkt erleiden, sind Frauen eher mit um die 70 Jahre betroffen. „Diese beiden Gruppen jetzt in ein und dieselbe Reha-Therapie zu stecken, ist eigentlich völlig unsinnig, wird aber so praktiziert“, sagt Annegret Hofmann. „Dabei hat eine Studie an einer bayerischen Rehaklinik gezeigt, dass Frauen in einer eigenen, auf sie zugeschnittenen Reha sehr viel besser und schneller wieder genesen können. Dennoch wird das Thema durch die Politik, die Kassen oder die Rentenversicherung nicht vorangetrieben.“

Auch in der Schmerztherapie würde sich ein geschlechtersensibler Blick lohnen, so die Expertinnen des Netzwerks Gendermedizin, denn Frauen und Männer beschreiben Schmerzen nicht nur unterschiedlich, sie empfinden sie Studien zufolge auch anders. Ein Grund – und daran muss weiter geforscht werden: die Hormone. Ähnliches gilt auch für psychische Erkrankungen, allen voran Depressionen: „Es gibt – so wissen wir heute – nicht mehr Frauen mit Depressionen als Männer, Frauen gehen damit aber viel offener um“, so Annegret Hofmann. „Und so haben wir dort viel mehr Diagnosen. Männer haben ähnliche psychische Sorgen wie Frauen – nur durften sie diese eben in ihrem Rollenbild lange Zeit nicht haben, bis heute.“

Um Erkrankungen aufzuspüren, brauche es auch eine andere, geschlechtergerechte Ansprache der Patientinnen und Patienten. „Ärztinnen und Ärzte müssen Symptome im Lebensalltag der Patienten verorten, egal ob Mann oder Frau. Sie müssen wissen, wie ein Mensch lebt, was ihn bewegt“, sagt die Expertin. Allerdings: In der medizinischen Ausbildung hat die Gendermedizin bisher einen eher marginalen Anteil. An der Charité in Berlin ist sie Pflichtfach, an einigen anderen Fakultäten steht sie immerhin zur Wahl. Die Charité war es auch, die 2007 das deutschlandweit erste Institut für Gendermedizin gründete, inzwischen gibt es immer mehr Wissenschaftlerinnen, die sich mit dem Thema beschäftigen. „Tatsächlich sind es die Frauen in Forschung und Wissenschaft, die der Gendermedizin den entscheidenden Push geben“, sagt Annegret Hofmann. Deshalb sei es wichtig, dass Frauen in Kliniken Führungspositionen einnehmen. Gleichzeitig sei es entscheidend, dass die Erkenntnisse der Gendermedizin rasch raus aus den Laboren und Hörsälen und rein in die Arztpraxen und Kliniken kämen. Patientinnen müssten eine Behandlung einfordern, die ihrem Geschlecht, ihrer Lebenslage entspricht.

Geschlechtersensible Medizin bietet Chancen für die ganze Gesellschaft

Geschlechtersensible Medizin bietet Chancen für die ganze Gesellschaft: „Die Menschen wären einfach gesünder und damit zufriedener“, betont das Netzwerk Gendermedizin. Nicht zu unterschätzen sei auch der wirtschaftliche Faktor. „Medikamente wären besser an die Bedürfnisse der Menschen angepasst – und würden so weniger weggeworfen. Allein das würde sehr viel Geld einsparen. Hinzu kämen weniger falsch oder zu spät behandelte Frauen und Männer.“

In einem sehen die Gender-Medizinerinnnen und -Mediziner aber keine großen Unterschiede zwischen den Geschlechtern – nämlich bei der Frage, wie man ein langes und gesundes Leben führen kann. Eine gesunde Ernährung und regelmäßiger Sport helfen, den Körper vor den Volkskrankheiten Diabetes und Herzleiden zu schützen. „Männer müssen zusätzlich noch dazu kommen, Vorsorgeuntersuchungen wahrzunehmen. Da sind Frauen ihnen schon voraus. Denn Frauen übernehmen in der Familie oft die Rolle der Gesundheits-Managerin.“

Das gebrochene Herz

Als der Reeder-Millionär Aristoteles Onassis sie verließ, soll Operndiva Maria Callas im Alter von nur 53 Jahren an ihrem gebrochenen Herzen gestorben sein. Alles nur Legende? Nicht unbedingt, denn das „Broken-Heart-Syndrom“ gibt es tatsächlich. Medizinisch wird es Tako-Tsubo-Kardiomyopathie genannt, und die Symptome sind mit denen eines Herzinfarkts vergleichbar – auf Grund einer massiven Ausschüttung von Stresshormonen kommt es zu einer Verkrampfung des Herzens und zu verminderter Schlagkraft an der Herzspitze. Die Betroffenen haben starke Schmerzen, ihr Blutdruck fällt ab, die Pumpleistung des Herzens lässt nach, der Körper wird nicht ausreichend mit Blut versorgt, es kommt zu heftigem Schweißausbruch und Übelkeit.

Betroffen sind in der großen Mehrzahl Frauen nach den Wechseljahren, und sie alle berichten, dass den Symptomen emotionale Situationen wie der Verlust des Partners oder andere Unglücke vorausgegangen sind. Diese Erkrankung ist akut lebensgefährlich und bedarf intensiver Behandlung. Sie heilt aber in vielen Fällen ohne Folgen aus, während die meisten „echten“ Infarkte Defekte am Herzgewebe hinterlassen. Gebrochene Herzen können also tatsächlich heilen.

Corona und die Folgen
Frauengesundheit in der Pandemie

Die Corona-Pandemie hat der Gendermedizin zu weiterer Bekanntheit verholfen. Wie? Weltweit stellten Ärztinnen und Ärzte fest, dass mehr Frauen als Männer an Covid-19 erkrankten, gleichzeitig aber mehr Männer schwer krank wurden und auch an dem Virus starben. Elpiniki Katsari, Fachärztin für Herzchirurgie sowie Gendermedizinerin an der Universitätsmedizin Greifswald, hat eine internationale Fachtagung zu dem Thema veranstaltet: „Die Pandemie hat gezeigt, dass das Geschlecht bei Covid-Erkrankungen eine bedeutende Rolle spielt. Man hat die Gender-Aspekte wirklich sehr schnell und offensichtlich gesehen. Die unterschiedlichen Krankheitsverläufe haben biologische wie soziale Ursachen: Frauen arbeiten stärker in Berufen im Gesundheits- und Sozialwesen und sind dem Virus daher häufiger ausgesetzt als Männer. Diese wiederum leiden häufiger an Bluthochdruck, sind Raucher oder haben Vorerkrankungen wie die Lungenkrankheit COPD.“
Doch nach einer überstandenen Erkrankung ist der Leidensweg für 10 Prozent der Infizierten nicht vorbei, sie leiden an Long Covid. „Es zeigt sich, dass vor allem Frauen an Long Covid leiden. Sie kämpfen mit Atembeschwerden, Konzentrations- und Schlafproblemen, Angststörungen und Depressionen“, sagt Elpiniki Katsari. „Warum das so ist, muss noch erforscht werden, auch die volkswirtschaftlichen Folgen sind noch nicht absehbar.“ Deshalb müsse man auch notwendige Behandlungsformen finden. „Frauen sind in dieser Pandemie nicht nur gesundheitlich schwer angegriffen. Es kommt noch einiges dazu: Sie verdienen weniger, haben weniger Ersparnisse, unsichere Jobs, gleichzeitig hängt die Sorgearbeit innerhalb der Familie an ihnen: Wenn sie nun an Long Covid leiden, bricht das alles über ihnen zusammen.“ 

Fakten und mehr 

Frauenmedizin – Männermedizin
Der kleine Unterschied ist größer 
als gedacht 
Taschenbuch
Annegret Hofmann, Rolf Hofmann 
Goldegg Verlag, 206 S., 17,00 €
ISBN 978-3-99060-213-3

Neueste Forschungsergebnisse, 
wichtige Köpfe und mehr aus der 
Gendermedizin gibt es auf 
www.gendermed.info 

Auch die kfd beschäftigt sich
mit dem Thema Frauengesundheit.
Mehr unter: 
www.kfd.de/frauengesundheit

Zudem haben verschiedene 
Diözesanverbände Programme 
speziell zu diesem Thema ausge-
arbeitet. Der Bundesverband bietet 
vom 8. bis 9. Juli 2022 die Tagung 
„Ich schenke Dir mein Herz – oder 
lieber doch nicht? Organspende 
aus Frauenperspektive“ an.

Stand: 29.12.2021