Spiritualität in der Natur - die Schöpfung im Jahresverlauf

Von Maria Anna Lernen
Gerade noch schien alles wie tot zu sein. Nackte Erde, Reste von Schnee und zerbröselndem, altem Laub – alles irgendwie müde, wenig reizvoll, eine verführerische Einladung, den Winterschlaf der letzten Wochen ohne Pause fortzusetzen. Man könnte meinen, alles Leben, alles Licht hätte sich draußen zugleich mit Freude und Frohsinn für immer verabschiedet. Aber stimmt das? Die Schöpfung mutet manchmal an wie ein verschmitzter Gaukler, ein Jahrmarktskünstler, ein Taschenspieler. Gerade noch scheint alles verschwunden zu sein, die Hände sind leer, alles vergangen, vergessen, so als wären alle Uhren abgelaufen. Doch dann, total unvermutet, ja, wirklich wie ein bisschen Zauberei, wie Magie, beginnt sich die Stimmung zu verändern. Eigentlich merkt man es nicht sofort. Noch ist die Müdigkeit unverändert, man starrt lustlos aus dem Fenster, während die Finger am Fensterglas trommeln. Doch dann fällt der Blick auf den einen kleinen Fleck im Vorgarten oder auf eine Stelle am Wegrand im Park. Da war es doch gestern noch so düster, so dunkel, so abgestorben. Und jetzt? Wie feine Risse im weichen Boden fältelt sich die Erde auf. Da, jetzt kann man es genau sehen. Wie eine feine grüne, überaus zarte Spitze schiebt sich eine helle Zacke empor, eine Lanze, ein Speer, den Beginn der Wintervertreibung anzuzeigen.
Wenn sich feine, grüne
Lanzen den Weg durch dunklen
Boden bahnen, dann beginnt
die Schöpfung ganz leise das
neue Jahr ihres Wachsens
und Blühens. Und: Schöpfung
als innigster Verbund alles
Lebenden hat einen Aufforderungscharakter.

Eine unwiderstehliche Regung
Die Schöpfung beginnt das neue Jahr ihres Wachsens und Blühens nicht mit Böllerschüssen und Jubelschreien. Sie beginnt es sehr leise, kaum spürbar und tief verborgen. In jeder Wurzel, in jeder Knolle, in Baumrinde und Graswurzelwerk fängt es an. Es ist wie eine tief verborgene Kraft, die spürbar wird, eine unwiderstehliche Regung, so als wäre eine Art machtvoller Ruf an alle und alles ergangen, aufzuwachen aus Winterstarre, Dunkelheit und müdem Rückzug. Die ersten Reaktionen sind unsichtbar. Sie geschehen tief versteckt im dunklen Erdreich, manchmal zu ahnen, selten zu beobachten. Wie ein Pendant, wie ein Spiegelbild zum sich aufhellenden Firmament über der Erde beginnt sich tief unten im Boden etwas zu verändern. Hier leben die wichtigsten Helfer für Wachstum, Blütenpracht und Fruchtfülle. Millionen und Abermillionen fleißige Helfer stellen hier die Grundlagen zur Verfügung, um Wachstum möglich zu machen. Den meisten Menschen sind sie unbekannt, und leider werden sie oft mit Missfallen und Abscheu betrachtet, wenn sie per Zufall einmal in der Nähe von Wohnungen auftauchen. Aber sie sind unverzichtbar, die Asseln, die Springschwänze, die Regenwürmer, Tausendfüßler und Amöben. Im engen Zusammenspiel mit verschiedenen Bakterien sind sie es, die das Bodenleben aktivieren, vitalisieren und so Wachstum überhaupt möglich machen. Fast alle Pflanzen auf dem Planeten Erde sind angewiesen auf diese unermüdlichen Untergrundarbeiter*innen. Sie verwerten alles, spalten es auf, wandeln es um, damit Wurzeln, Knollen, Baumrinden, Graswurzeln und jegliche pflanzliche Leitungsbahnen Nährstoffe dorthin bringen können, wo sie benötigt werden. Es ist ein faszinierender Kreislauf, denn nichts wird verschwendet, alles kann aufbereitet und angeboten werden, damit auf der Oberfläche Wachstum geschehen kann.
Eine überaus verletzliche Hülle
Ob in den oberen zehn Zentimetern oder in den tiefsten Erdschichten – welche die Eichen- und Buchenwurzeln erreichen können –, es ist ein Organismus, ein Ökosystem, eine lebendige Hülle, die den ganzen Erdball umgibt. Eine Hülle, über deren lebensvolle und Leben gebende Energie man immer wieder staunen darf. Aber! Diese Hülle ist auch außerordentlich verletzlich. Sie braucht Schutz, denn sie ist ebenso eine sehr begrenzte Ressource. Täglich verliert sie auf vielen Quadratkilometern an Energie und Widerstandskraft durch Versiegeln, Verdichten, Versalzen und Austrocknen.
Gerade jetzt zu Beginn des Frühlings, wo manchmal mit einer Schnelligkeit, die überrascht und begeistert, das Grün zu sprießen beginnt, Knollen und Blütenknospen anschwellen und das frische Grün der Blattspitzen vorwitzig herausblinzelt, steigen natürlich Lebensfreude und eine neue Lust am Sein bei Mensch und Tier.
Wer sich Zeit und Muße nimmt, diesem Geheimnis, das sich unter den Füßen der Menschen beständig vollzieht, nachzuspüren, wird nicht lange warten müssen, um Parallelen zu finden. Parallelen zum persönlichen Leben und zum Leben aus dem Glauben. Es genügt meist schon, sich einfach einmal in die jetzt aufbrechende Natur zu setzen. Still, ohne Ablenkung, und sich zu öffnen.
Gerade jetzt zu Beginn des Frühlings, wo manchmal mit einer Schnelligkeit, die überrascht und begeistert, das Grün zu sprießen beginnt, Knollen und Blütenknospen anschwellen und das frische Grün der Blattspitzen vorwitzig herausblinzelt, steigen natürlich Lebensfreude und eine neue Lust am Sein bei Mensch und Tier. Diese Freude als Denkanstoß zu nehmen, als Impuls, als Ansporn, diesem geheimnisvollen Wirken und Arbeiten des Bodens, der Erde unter den Füßen, nachzuspüren, kann den Blick, kann vor allem den inneren Blick öffnen und scharf stellen für eine fundamental wichtige Erkenntnis: Nicht nur das Ökosystem Boden ist Schöpfung. Nicht nur die schwellenden Knospen, das neu sprießende Gras und die zaghaft sich öffnenden ersten Blüten sind Schöpfung. Auch der Mensch, auch ich bin es.
Ich bin gewollt und geschaffen, eingebunden, tief verwurzelt in dieses wundervolle Gesamt der Schöpfung durch den, der es erschaffen hat. Durch Gott, durch den Schöpfer. Diese Gedanken zuzulassen, sich darauf einzulassen bedeutet auch, sich auf eine besonders intensive Weise mit den Grundlagen allen Lebens auf diesem Planeten zu befassen. Nicht unbedingt auf eine wissenschaftliche, rationale Art. Diese meditative Vorgehensweise schenkt eine andere Sicht, es ist eine Seh-Schule, eine Wahrnehmung, die Einsichten schenkt, ein Begreifen von Welt, von Schöpfung und der eigenen Person mit allen Sinnen. Es ist tiefe Freude, wenn das einem Menschen bewusst wird. Es macht auf eine besonders innige Weise die Grundlagen des Lebens sichtbar. Es ist ein innerliches Begreifen, das den Geschenkcharakter allen Lebens, die Geschöpflichkeit der Welt im Herzen aufleuchten lässt. Dieses Begreifen ist Freude, ja, aber auch Verantwortung. Denn was ich kenne, liebe und wertschätze, muss ich auch schützen. Die Sorge für das, was sich gerade jetzt vor unseren Augen und Ohren, vor all unseren Sinnen beginnt auszubreiten, ist keine Nebensächlichkeit, die vielleicht dann, wenn gerade einmal Zeit dafür übrig ist, im Tagesplan ein Plätzchen findet. Schöpfung als innigster Verbund alles Lebenden hat einen Aufforderungscharakter. Nicht nur in Bezug auf ihre Wahrnehmung und Wertschätzung. Wenn Schöpfung, wenn die ganze Erde Geschenk des Schöpfers an seine Geschöpfe ist, bedeutet das auch, sie zu schützen und zu bewahren für diejenigen, die nach uns kommen. Die Schönheit und Fülle des uns umgebenden pulsierenden Lebens, die faszinierenden Zusammenhänge mit Sorgfalt zu erhalten, ist keine mögliche Option, sondern
Pflicht.