Kraft wohnt in jeder von uns

Von Isabelle De Bortoli
Bestsellerautorin Melanie Wolfers zeigt in ihrem neuen Ratgeber „Nimm der Ohnmacht ihre Macht“ auf, wie wir besser mit Situationen umgehen können, in denen wir uns ausgeliefert fühlen. Im Interview mit Junia beschreibt sie, wie wir mit der Kraft, die in uns wohnt, die Ohnmacht überwinden können.
Ohnmacht, Macht, Kraft – wie kamen Sie auf dieses Themenfeld für Ihr neues Buch?
Melanie Wolfers Die Themen finden in der Regel mich, und der konkrete Auslöser für dieses Buch war der 24. Februar 2022, als Russland in die Ukraine einmarschiert ist. Corona, Krieg, das Klima – diese drei großen Themen haben ein sehr verbreitetes Ohnmachtsgefühl in unserer Gesellschaft hinterlassen. Gleichzeitig berichten mir viele Menschen von Schicksalsschlägen, von Ohnmachtsgefühlen in ihrer Biografie, von Alltagssituationen, in denen sie sich hilflos fühlen: Da rennt ein geliebter Mensch in sein Unglück, und ich kann ihn nicht aufhalten, oder eine Kollegin lässt mich auflaufen – all das kann dazu führen, dass wir uns ausgeliefert fühlen. Auch gegenüber Krankheiten fühlen wir uns manchmal ohnmächtig, oder gegenüber dem Alterungsprozess des eigenen Körpers. In meinem Buch zeige ich: Wer das Erleben von Ohnmacht als einen Teil des Lebens anerkennt, wird mit dieser Realität besser umgehen können. Er wird sich nicht lähmen lassen, wenn die Ohnmacht nach ihm greift, sondern die Kraft entdecken und entfalten, die in ihm wohnt.

In Ihrem Buch beginnen Sie den zweiten Teil mit einer guten Nachricht: Dass wir dem Erleben der Ohnmacht nicht hilflos ausgeliefert sind.
Wichtig ist, dass uns klar wird: Sich ohnmächtig zu fühlen, heißt noch lange nicht, tatsächlich ohnmächtig zu sein. Meine Erfahrung als Seelsorgerin ist: Die Menschen fühlen sich oft schwächer, als sie sind. Mein Rat ist da ganz klar: Glaub nicht alles, was du fühlst, schalte deinen Verstand ein und schaue auf das Gefühl von Ohnmacht. Mach den Realitätscheck: Bist du wirklich hilflos? Oder hast du Handlungsspielraum?
Ein Beispiel: Eine Frau erzählte mir von einem Streit mit ihren Geschwistern. Sie fühlte sich wie gelähmt, konnte nicht für ihre Meinung einstehen. Im Nachhinein war es für sie eine befreiende Einsicht, dass es sich um eine biografisch bedingte Starre handelt, die sich aus der Geschwisterkonstellation ergibt. Sie hat eingesehen, dass sie sehr wohl Handlungsspielraum gehabt hätte. Wenn man sich seiner Gefühle bewusst wird, kann man sich überlegen: Wie kann ich lernen, aus dem lähmenden Ohnmachtsgefühl herauszufinden? Welche Strategie lege ich mir zurecht? Sich innerlich auf das Gespräch mit den Geschwistern vorzubereiten, hat auch der Frau, von der ich sprach, geholfen.
Selbst in der schwersten Trauer gibt es vielleicht noch Dinge, die gerade schön sind, über die ich mich freuen kann. Beispielsweise über einen blühenden Kirschbaum, der mir die Kraft des Lebens vor Augen führt.
In Situationen, in denen wir uns ohnmächtig fühlen, können wir uns auf unsere Kräfte besinnen. Sie benennen in Ihrem Buch sieben Grundhaltungen, auf die wir bauen können. Ein Trapez des Lebens, das uns auch dann noch tragen kann, wenn alle Stricke reißen. Zum Beispiel die Dankbarkeit.
Sie ist in Krisensituationen eine wichtige Kraft: Wir schauen nicht mehr nur auf das Negative, sondern auch auf das, wofür wir dankbar sind. Selbst in der schwersten Trauer gibt es vielleicht noch Dinge, die gerade schön sind, über die ich mich freuen kann. Beispielsweise über einen blühenden Kirschbaum, der mir die Kraft des Lebens vor Augen führt.
Melanie Wolfers, Jahrgang 1971, ist Philosophin und Mutmacherin. Aufgewachsen in Norddeutschland, studierte sie Philosophie und Theologie in Freiburg und München und wirkt seitdem als Beraterin, Rednerin und Autorin. Seit 2004 lebt die Expertin für Lebensfragen und Spiritualität in einer christlichen Ordensgemeinschaft in Wien. Melanie Wolfers schöpft aus ihrer langjährigen Erfahrung als Seelsorgerin; sie ist Bestsellerautorin und betreibt den erfolgreichen Podcast „GANZ SCHÖN MUTIG – dein Podcast für ein erfülltes Leben“.
Wie kann ich die Kraft der Dankbarkeit in meinen Alltag integrieren?
Beispielsweise, indem ich abends konkret aufschreibe, wofür ich an diesem Tag dankbar war. Etwa über den Duft der Marillenblüten oder ein liebes Wort, das ich gehört habe. Je konkreter ich werde, desto mehr schule ich mich selbst darin, positive Dinge wahrzunehmen und sensibler zu werden für Kleinigkeiten, die dem Ohnmachtsgefühl entgegenstehen. Ich persönlich stelle mich auch gerne am Abend ans offene Fenster und denke darüber nach, was licht war an diesem Tag, wofür ich dankbar sein kann, und lasse meine Seele in den offenen Himmel atmen. Der Tagesrückblick, dieses Gebet am Abend, hat eine große spirituelle Tradition und hilft, den Tag loszulassen.
Die Kraft der Zuversicht stärkt mein Vertrauen in mich selbst: Ich werde es wieder schaffen!
Welche Haltung kann uns in Krisen noch helfen?
Die Zuversicht. Sie kann uns helfen zu erkennen, welche Krisen wir schon durchlebt und überwunden haben. Das Leben mutet uns immer wieder schwierige Dinge zu; in einer akuten Krise hilft es also zu schauen, welche Krisen ich schon bewältigt habe – und was mir dabei geholfen hat. Das kann ich dann vielleicht wieder anwenden. Die Kraft der Zuversicht stärkt mein Vertrauen in mich selbst: Ich werde es wieder schaffen!
Wie gelingt es mir noch, Kraft zu mobilisieren? Wie schaffe ich den Perspektivwechsel von Ohnmachtsgefühlen hin zu Zuversicht und Hoffnung?
Wichtig ist, ins Tun zu kommen, denn Handeln weckt Hoffnung. Als beispielsweise der Ukrainekrieg ausbrach, überwanden viele ihre Angst und Ohnmacht und unterstützten die Geflüchteten auf vielfältige Weise. Zugleich entängstigte das eigene Engagement die Helfenden selbst. Sie spürten: Mein Tun bewirkt etwas Gutes für andere; dass ich da bin, macht einen Unterschied! Das Gefühl von Ohnmacht wird so eingedämmt von dem Gefühl der Selbstwirksamkeit, der Tatkraft!
Ist es ein Problem, wenn ich nurxminimale Veränderungen in meinem Leben umsetzen kann? Oder kann ich damit schon etwas bewirken? Wie finde ich Vertrauen in meine Kraft?
In meinem Buch beschreibe ich sieben Grundhaltungen wie Verzeihen, Freude, Zuversicht – darunter ist bestimmt mindestens eine, zu der man Zugang findet. Und es ist doch so: Verändere ich etwas in meinem Leben auch nur minimal, verändert sich schon die Richtung, man landet woanders. Ich kann zum Beispiel auch fragen: Wer braucht mich heute? Und dann erfahre ich Sinn, vielleicht auch nur in ganz kleinen Dingen, weil ich jemandem mit einer schweren Tasche geholfen habe – aber so verändert sich Stück für Stück meine Haltung.