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Kirche zu einem sicheren Ort machen

Den Betroffenen zuhören und von ihnen lernen: Theresa Oesselke stellt den Menschen in den Mittelpunkt, wenn es um die Themen Missbrauch und Prävention geht. Aber auch die Beschuldigten will die 22-Jährige nicht aus dem Blick lassen. Die Theologiestudentin fordert eine differenzierte und sensible Aufarbeitung für beide Seiten. 

Von Julia Pütz

Ein Studienpraktikum in Rom, dem Herz der Weltkirche, hat es Theresa Oesselke erneut bewusst gemacht: Jede Opferzahl steht für einen Menschen und dessen Geschichte. „Wenn man sich mit dem Thema Missbrauch beschäftigt, muss es Grundlage und Voraussetzung sein, den Betroffenen zuzuhören und von ihnen zu lernen.“ „Victims first“ („Opfer zuerst“) und Sensibilität sind die Stichworte, mit denen sich Theresa Oesselkes Erfahrungen am Institute of Anthropology – Interdisciplinary Studies on Human Dignity and Care, kurz IADC, zusammenfassen lassen. Und das in vielerlei Hinsicht: Sensibilität im Umgang mit Betroffenen, Sensibilität für deren soziales Umfeld, Sensibilität für kulturelle Kontexte sowie Sensibilität bei der Beachtung der Rechte von Beschuldigten. „Wir können die Vergangenheit nicht mehr rückgängig machen, aber wir können und müssen alles dafür tun, daraus zu lernen und die Kirche zu einem sicheren Ort machen“, sagt die 22-Jährige.

Entscheidend ist für mich die persönliche Beziehung zu Gott beziehungsweise Jesus Christus. Mein Glaube gibt mir die Gewissheit, dass ich von Gott getragen werde und dass ich so gut bin, weil mich Gott so gewollt hat.

Das Thema Missbrauch ist Theresa Oesselke zunächst nur entfernt begegnet. „Als die großen Missbrauchsskandale in Deutschland bekannt wurden, war ich gerade am Anfang meiner Messdienerzeit.“ Die heutige Theologiestudentin wuchs in einem katholischen Elternhaus im ländlichen Brakel in Ostwestfalen auf. „Der Glaube hat mich von klein auf begleitet.“ Nach der Erstkommunion engagierte sie sich als Messdienerin, später als Lektorin und Organistin. „Entscheidend ist für mich die persönliche Beziehung zu Gott beziehungsweise Jesus Christus. Mein Glaube gibt mir die Gewissheit, dass ich von Gott getragen werde und dass ich so gut bin, weil mich Gott so gewollt hat.“ Bereits als Ministrantin entwickelte Theresa Oesselke ein besonderes Interesse für theologische Fragestellungen. „Die Liturgiewissenschaft hat mich zum Beispiel von Beginn an fasziniert. Vorlesungsbesuche schon zu Schulzeiten haben mein theologisches Interesse bestätigt – irgendwann ist der Funke übergesprungen.“ 

Derzeit befindet sich die 22-Jährige im 7. Semester an der Theologischen Fakultät Paderborn. „Das Studium ist herausfordernd, aber auch vielseitig“, sagt Oesselke, die inzwischen ein wissenschaftliches Interesse für die Missbrauchsthematik entwickelt hat. Sie forscht an der Schnittstelle von Theologie, Kirchenrecht, Recht und Psychologie. Zudem haben Begegnungen mit Betroffenen die Themen Missbrauch und Prävention für sie existent und persönlich werden lassen. Eine Auseinandersetzung dürfe, so die 22-Jährige, nicht nur akademisch erfolgen, sondern sollte den konkreten Menschen in den Blick nehmen – Opfer wie Beschuldigte. „Aus Statistiken mit anonymen Zahlen sind für mich konkrete Gesichter mit ihren Lebensgeschichten geworden. So ist der Bereich der Präventionsarbeit, im Englischen Safeguarding genannt, für mich ein Dienst an den Menschen.“ 

Fachlich wie persönlich motiviert, entschied sich Theresa Oesselke in 2022 für ein vierwöchiges Studienpraktikum an einem Forschungsinstitut der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom, das sich mit den Fragen des Missbrauchs und der Prävention beschäftigt. Geleitet wird das IADC vom deutschen Jesuiten Hans Zollner. „Neben dem Grundsatz ,Victims first‘ habe ich in verschiedenen Begegnungen mit Studierenden aus der ganzen Welt gelernt, wie wichtig und notwendig es ist, Missbrauch und Prävention vor dem Hintergrund unterschiedlicher kultureller Kontexte zu sehen. Es braucht ein kulturelles Gespür für einen konstruktiven Dialog und die Umsetzung von Präventionsmaßnahmen.“ Zudem brauche es einen interdisziplinären Zugang zur Missbrauchsthematik, in dem sich Recht, Kirchenrecht, Psychologie und Theologie verbinden. 

Beim geistlichen Missbrauch steht die Aufarbeitung zum Beispiel noch am Anfang.

Für Theresa Oesselke ist es zudem wichtig, bei der Aufarbeitung der kirchlichen Missbrauchsereignisse neben den Betroffenen auch die Rechte der Beschuldigten zu beachten. „Auch wenn das unserem menschlichen Gerechtigkeitsgefühl vielleicht widerstrebt. Das neue kirchliche Strafrecht, das Papst Franziskus 2021 in Kraft gesetzt hat, nennt erstmals und ausdrücklich die Unschuldsvermutung. Man sollte also beide Seiten differenziert und sensibel im Blick haben: die Betroffenen und die Beschuldigten.“

Sensibilität wünscht sich die Theologiestudentin auch für die verschiedenen Formen des Missbrauchs innerhalb der Kirche. „Beim geistlichen Missbrauch steht die Aufarbeitung zum Beispiel noch am Anfang. Mit Blick auf das Kirchenrecht wäre es außerdem wichtig, die Rechte von Betroffenen in Prozessen zu stärken. Es ist zu überlegen, ob sie nicht als Nebenklagende oder Verletzte beteiligt werden können.“ Zudem seien häufig nur Kinder und Jugendliche als Missbrauchsopfer im Blick. „In der Kirche begegnen wir aber auch Erwachsenen, vor allem Frauen, die Missbrauch in verschiedenen Formen erlebt haben. Hier fehlen transparente Kriterien zur Anwendung der Gesetze.“ 

Um Fälle von Grenzüberschreitungen, die strafrechtlich nicht relevant, aber moralisch verwerflich und psychologisch fragwürdig sind, künftig zu vermeiden, brauche es laut Theresa Oesselke schon in der Priesterausbildung eine offene Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität und eine qualifizierte Begleitung. Aber auch nach der Weihe dürften Priester mit diesen Fragen nicht allein gelassen werden. Letztlich gelte dies ebenso für das ganze pastorale Personal. Das Ziel sollte sein, die Kirche zu einem sicheren Ort zu machen.

Das Praktikum in Rom war für die 22-Jährige fachlich und persönlich eine wertvolle Bereicherung. Es hat sie ermutigt, ihre akademischen Studien in Kirchenrecht und Psychologie im Zusammenhang mit den Themen Missbrauch und Prävention zu vertiefen. „Ich hoffe, dass ich mit dem Institut in Kontakt bleibe und vielleicht eines Tages sogar dorthin zurückkehren kann.“ Eine spätere Tätigkeit im Bereich der Präventionsarbeit kann sie sich durchaus vorstellen. 

Aktuell engagiert sich Theresa Oesselke zudem im Gemeindeteam der Katholischen Hochschulgemeinde und beim Caritasverband in Paderborn. Dort begleitet sie im Rahmen der Suizidprävention Jugendliche und junge Erwachsene in Krisensituationen. Neben ihrem Studium arbeitet die 22-Jährige als Werksstudentin bei „YOUPAX“, dem jungen Glaubensportal des Erzbistums Paderborn: „Hier entwickeln wir Formen der digitalen Glaubensverkündigung und schreiben über verschiedene Themen, die junge Menschen bewegen.“

Weitere Informationen unter https://iadc.unigre.it/

Die Generation K finden Sie auch hier: 

www.kfd.de/generation-k

Stand: 23.12.2022