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Gottes Grünkraft und die Sommerfrage

Lange Zeit ist nichts zu sehen. Keine Bewegung. Sie scheint regungslos zu sein, ohne Leben. Ab und zu vielleicht ein sachtes Schwanken, wenn ein sanfter Wind ihre Blätter erfasst. Sonst nichts! Sonst nichts? Doch!

Von Maria Anna Leenen

Eines Morgens scheint etwas in ihr zu geschehen, es arbeitet, so, als breite sie sich aus, als erwache sie. Es hat etwas Magisches, es berührt wie ein Zauber, wenn dieses Ereignis beginnt. In dem Moment, wo der erste Sonnenstrahl auf die Knospe trifft, scheint sich dieses zierliche hellrosa Gebilde zu dehnen. Wie ein Weckruf, wie ein aufmunterndes Streicheln wandert der Sonnenstrahl über sie und eine charmante Landschönheit erblüht. Mit einem leisen, sehr leisen Knistern entfaltet die Blüte ein Blättchen nach dem anderen, und als biete sie ihr Innerstes der Sonne dar, liegt die Fülle ihrer Pracht vor den Augen aller.

Fülle? Pracht? Es ist nur eine einzelne Rosenblüte, ein kleiner Kranz farbiger Blätter mit einem Kreis zierlicher, winziger Staubblüten, zarte Stängelchen in leuchtendem Gelb in der Mitte der Blüte. Rosa canina, die Hunds-Rose, entfaltet im Juni eine oft überbordende Fülle hellrosa oder weißer Scheibenblüten. Sie sind einfach, fast schlicht zu nennen. Aber ein großer Strauch von Rosa canina, übersät mit Blüten über Blüten, ist ein herrliches Bild, eine Vorschau der beginnenden Blütenschwemme des Sommers. Ein überaus beeindruckendes Bild dieser Schönheit bietet jedes Jahr der riesige Rosenstrauch am Hildesheimer Dom. Seit 1000 Jahren blüht hier Rosa canina und erfreut Menschen und Insekten. Denn auch wenn die Hunds-Rose keinen Nektar anbieten kann – nahrhaften Pollen für Bienen, Hummeln und Co. hat sie reichlich, und am Ende des Sommers erfreuen ihre eiförmigen, vitaminhaltigen Hagebutten Menschen und Tiere.

Eine faszinierende Farbsinfonie

Die zarten Blütenträume der Rosa canina können bezaubern. Die bestimmende Farbe des beginnenden Sommers aber ist das Grün. Eigentlich nur eine Mischung aus Blau und Gelb – aber was für eine faszinierende Sinfonie aus Farbtönen macht die Schöpfung daraus. Im Zusammenspiel mit der zunehmenden Sonneneinstrahlung leuchtet und blitzt die Palette an Grün, wohin das Auge schaut. Allein die unterschiedlichen Schattierungen innerhalb der Gräser kann den, der sich ein bisschen Zeit zum geduldigen Schauen nimmt, entzücken. Eher bräunlich angehaucht steht da zum Beispiel das Wiesenkammgras nicht weit entfernt von Zittergras und Fiederzwenke – alles Gräser, die mit zarten und eher dunkelgrünen Halmen sowie unscheinbarer Blüte sanft im Wind schwanken. Kräftig dunkelgrün dagegen mit seinen breiten, lederartigen Blättern trotzt der Breitwegerich auch häufigen Spaziergängern, ebenso wie das Wiesen-Lieschgras, dessen langgezogener Kolben der Blüte geschmückt ist mit hellbraunen winzigen Grannen. Farbenprächtiger über all den verschiedenen Grüntönen wogen die Blüten von zum Beispiel der Wiesenglockenblume und dem Wiesensalbei in kräftigem Violett und der Kleinen Braunelle in rot-lila.

Grün ist die Farbe, die viele Menschen mit positiven Empfindungen verbinden. Grün ist die Hoffnung, Grün steht für Erneuerung, für Leben und sogar für Unsterblichkeit. In Ruhe sich an einer grünen Wiese aufzuhalten, zu schauen auf das wogende Gras, fährt den Menschen runter, lässt ihn zur Ruhe kommen, Gelassenheit und Harmonie werden gefördert. Auch und gerade Kunstschaffende faszinierte die Farbe Grün in allen Zeiten. Viele Künstlerinnen und Künstler haben sich intensiv bemüht, vor allem diese Farbe so naturgetreu wie möglich auf die Leinwand zu bringen. Besonders die Impressionisten, die Ende des 19. Jahrhunderts neue Wege in der Malerei suchten, betonten den Wert, den Charakter der jeweiligen Farbe und versuchten durch den intensiven Ausdruck, die Impression, den Blick des Betrachters verstärkt zu fesseln.

Einige Jahrhunderte früher wurde diese Farbe für eine Frau zu einem ganz besonderen Impuls. Für sie, die im 12. Jahrhundert lebte, wurde das Grün zu einem besonderen Sinnbild: Hildegard von Bingen, geboren 1098 auf dem Gut Bermersheim bei Alzey in Rheinhessen. Mit 16 Jahren tritt sie in das Benediktinerinnenkloster Disibodenberg ein und wird 1136 zur Magistra, zu Leiterin, gewählt. Für Hildegard war die Farbe Grün das Symbol des Lebens überhaupt. Sie bezeichnete alle Naturkräfte als grün. Sie beobachtete mit einem gläubig geschulten Blick nicht nur die farbigen Erscheinungen der Pflanzen, sondern ebenso die seelische Gesundheit, die Fantasie und Stärke des menschlichen Geistes. Die viriditas, die Grünkraft aus Gottes Hand, war für die große Benediktinerin der Schlüsselbegriff für das Leben schlechthin. „Es spricht für die geistige Kühnheit dieser mittelalterlichen Frau, dass sie sich einfach nicht mit den natürlichen Sinnbildern zu beruhigen vermag, dass sie ihre Schau von der Welt immer auch zu transzendieren weiß und in einen eschatologischen Horizont zwingt. Auf diese Weise wird ihr nicht von ungefähr gerade die augenscheinlich so natürliche Grünkraft zum Spiegelbild für jene Grünheit, die im Grunde der Ewigkeit verborgen liegt. (…) Insofern kann Hildegard sagen: Es gibt eine Kraft aus der Ewigkeit, und diese ist grün.“ (Heinrich Schipperges)

Der Sommer stellt Fragen

Eine blühende, grünende Landschaft zu betrachten, macht Freude. Es entspannt, hilft, Stress abzubauen und kann einen erschöpften Menschen aufrichten und mit neuer Kraft erfüllen. Schöpfungsmeditation aber greift weiter und tiefer. Das Bild der Pflanzen, der Bäume und Blüten hat eine Art Aufforderungscharakter. Im Bild, das vor den Augen aufstrahlt, kann eine Frage hörbar werden. Denn die Schöpfung ist eben nicht nur ein Bild, eine für immer fixierte malerische oder fotografische Gestaltung. Schöpfung lebt. Schöpfung ist Prozess, ist Entwicklung. Schöpfung ist nur zusammen mit Geschichte wirklich Schöpfung, ist Geschaffenes. Sie ist, theologisch begriffen, creatio continua. Und indem sie das ist, gehört die Geschichte der Menschen zwingend dazu. Mensch und Natur sind gemeinsam Schöpfung.

Das ruhige, aufmerksame Betrachten von Baum, Blume oder Gräsergemeinschaft ist zunächst Freude und Erholung. Ja! Aber der schauende Mensch öffnet sich, lässt sich ein auf das, was Baum, Blume oder Gräsergemeinschaft signalisieren, was sie ausstrahlen. Gerade der Sommer mit seiner Fülle an Farben und Wachstum spricht den Menschen intensiv an. Zu beobachten, wie das Korn auf dem Feld wächst, wie eine Rosenknospe sich öffnet, wie überall neues Leben sprießt und sich wandelt, stellt die Frage nach dem eigenen Wachstum. Es ist eine Frage, die in der Meditation dieser Jahreszeit laut wird und auch laut werden darf. Denn sie zielt nicht darauf ab, fehlende Blüte oder mangelndes Wachstum beim Betrachter mit negativem Beigeschmack aufzurufen. Gerade in dieser Jahreszeit wird vor allem die Fülle der Beziehungen, des Aufeinander-Angewiesen-Seins deutlich. Schöpfung ist auch der Prozess, in dem alles mit allen zusammenwirkt. Nur zusammen kann Wachstum und Blüte gelingen. Kein Baum, keine Rose, kein Grasbüschel kann für sich allein dauerhaft und gesund existieren. Schöpfung ist nur Schöpfung, wenn alle mit allen zusammenleben, wachsen und blühen.

Und selbst wer nicht, wie die Autorin dieser Zeilen, auf dem Land lebt, muss auf solche Erfahrungen verzichten. Jeder kleine Vorgarten, jeder Stadtpark, ja selbst Balkonblumen oder die Kräuter auf dem Fensterbrett können Ansporn sein, sind Möglichkeit, täglich fünf Minuten sich auf das einzulassen, was Schöpfung im Tiefsten anregen will. Man muss es nur versuchen.

Zu beobachten,
wie eine
Rosenknospe
sich öffnet, wie
überall
neues Leben
sprießt, stellt
die Frage nach
dem eigenen
Wachstum.

Stand: 02.05.2023