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Serie: Meine wichtigste Bibelstelle

Bibelverse können berühren, ermutigen, verwundern, bereichern. Was bedeuten sie aber jeder und jedem Einzelnen? In unserer neuen Serie haben wir Theologinnen und Theologen gebeten, uns ihre wichtigste Bibelstelle zu nennen und zu erklären, was sie daran fesselt und begeistert.  

Alle Folgen im Überblick

Das Magnifikat:
Der revolutionäre Keim

Folge 7: Gunda Werner, Professorin für Dogmatik am Institut für systematische Theologie und Liturgiewissenschaft in Graz

Und Maria sprach:
"Meine Seele lobt die Lebendige,
und mein Geist jubelt über Gott, die mich gerettet hat.
Sie hat auf die Erniedrigung ihrer Sklavin geschaut. Seht, von nun an werden mich alle Generationen glücklich preisen, denn Großes hat die göttliche Macht mir angetan,
und heilig ist ihr Name.
Ihr Erbarmen schenkt sie von
Generation zu Generation
denen, die Ehrfurcht vor ihr haben.
Sie hat Gewaltiges bewirkt.
Mit ihrem Arm hat sie die
auseinandergetrieben,
die ihr Herz darauf gerichtet haben,
sich über andere zu erheben.
Sie hat Mächtige von den
Thronen gestürzt und
Erniedrigte erhöht,
Hungernde hat sie mit Gutem
gefüllt und Reiche leer weggeschickt.
Sie hat sich Israels, ihres Kindes,
angenommen und sich an ihre
Barmherzigkeit erinnert,
wie sie es unseren Vorfahren zugesagt hatte, Sara und Abraham und ihren Nachkommen für alle Zeit."

Im Evangelium nach Lukas wird in Lk 1, 46b-55 die Begegnung zweier Frauen beschrieben: Elisabeth und Maria. Maria, so wird erzählt, besucht Elisabeth und beide sind - unerwartet, wenn auch sehr unterschiedlich unerwartet - schwanger.

Diese Begegnung wird in der katholischen Tradition den Namen "Mariä Heimsuchung" bekommen und in der Ikonographie fallen unterschiedliche Bildsprachen auf.

Da ist die freundschaftliche Umarmung zweier Frauen, die sich inniglich umarmen und miteinander freuen. Weiter ist aber auch die Unterordnung Elisabeths unter Maria zu sehen, Elisabeth kniet und Maria beugt sich umarmend zu ihr hinunter. Und es gibt die Konzentration auf die Kinder, die dann auch wie in einem Fenster im Leib zu sehen sind.

Des Weiteren gibt es die einander zugewandte Pose, in der Elisabeth ihre Hand auf Marias Bauch legt. Diese inniglich freundschaftlichen und manchmal auch demütigen Bilder könnten aber die Betrachtenden darüber hinwegschauen lassen, welche revolutionäre Kraft in dem sprachlichen Ausdruck, den Maria in dieser Begegnung findet, liegt: nämlich in dem Magnifikat.

Indem Lukas diese Begegnung in die Kindheitsgeschichte Jesu legt, werden sie und das Magnifikat zudem 'adventlich' gedeutet, und zwar doppelt:

Zu der Erwartung des Kindes wird die Erwartung der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes für die Armen und Unterdrückten hinzugefügt und Maria kann dies zudem durch die persönliche Erfahrung mit Gott bezeugen.

Die Ankunft des Kindes und Gottes Gerechtigkeit wird besungen als etwas, das durch eigene Erfahrung und durch die Erfahrung mit diesem Gott nicht nur ein Wunsch, sondern eine Realität ist.

Das Magnifikat ist eingeschrieben in die Tradition der Armenfrömmigkeit, die sich in Psalmen, Gebeten und im Prophetentum ausdrückt. Die Armen und Unterdrückten rufen zu Gott und erhoffen und erflehen Gottes Eingreifen in ihre Situation, erwarten die Gerechtigkeit von Gott.

Die revolutionäre Kraft dieses Liedes ist durch die Geschichte hindurch lebendig geblieben."

Marias Lobpreis ist in diesen Glauben und in diese Überzeugung hinein intoniert, dass Gott die Verhältnisse umkehren wird. In dem Magnifikat findet sich zugleich bereits die Reich-Gottes-Botschaft Jesu wieder, denn in dieser geht es auch um die Gerechtigkeit und das "Gute Leben".

In der sozialen, politischen oder persönlichen Not wird an Gott appelliert, dass er es doch anders will und anders gemeint hat.

Die Mächtigen werden vom Thron gestoßen, die Niedrigen erhöht. Die Reichen gehen leer aus, die Hungernden werden beschenkt. Welch starke Worte!

Die revolutionäre Kraft dieses Liedes ist durch die Geschichte hindurch lebendig geblieben, selbst wenn Maria immer mehr in eine spirituelle, demütige und rein hörende Rolle hineingedrängt wurde, bis sie im 19. Jahrhundert zum Prototyp der guten, bürgerlichen Frau wurde, die sich häuslich, demütig, still und rein verhält.

Das Magnifikat wirkt manchmal, als käme es dann von einer anderen Maria, die nicht diesem Marienbild entspricht. Nicht ohne Grund wurde im Mittelalter das Magnifikat an den Karnevalstagen gesungen, wenn die Knechte die Könige und Herren spielten und in Tiermasken oder als Gaukler in die Kirche kamen und zum Höhepunkt das Magnifikat gesungen wurde.

Nicht ohne Grund wurde das Magnifikat in den Diktaturen Lateinamerikas verboten. Auch heute würde das Singen des Magnifikats eine performative Kraft in Unrechtssituationen auslösen!

Manchmal sitze ich in hierarchiebetonten Situationen und höre innerlich die Kraft des Magnifikats."

Mich hat das Magnifikat fasziniert, seitdem ich es 1997 zum ersten Mal in einer Vesper bei den Franziskanerinnen gehört habe. Diese Faszination verstärkte sich durch die Erzählungen von Schwestern, die in Lateinamerika gelebt hatten und für die das Magnifikat zu den wichtigsten Texten im Kampf gegen das Unrecht blieb.

Mir ist es in feministischen Kreisen wiederbegegnet mit einem ganz anderen Marienbild und es begleitet mich seitdem. Manchmal sitze ich in hierarchiebetonten Situationen (das kommt ja als katholische Frau nicht so selten vor), und höre innerlich die Kraft des Magnifikats. Auch dies ist eine innere performative Kraft.

Stand: 22.06.2020