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Serie: Meine wichtigste Bibelstelle

Bibelverse können berühren, ermutigen, verwundern, bereichern. Was bedeuten sie aber jeder und jedem Einzelnen? In unserer neuen Serie haben wir Theologinnen und Theologen gebeten, uns ihre wichtigste Bibelstelle zu nennen und zu erklären, was sie daran fesselt und begeistert.  

Alle Folgen im Überblick

Aufleben soll euer Herz für immer!

Folge 10: Katrin Brockmöller, Direktorin des Katholischen Bibelwerkes

Aus Psalm 22:

2 Mein Gott, mein Gott,warum hast du mich verlassen? ...

3 Mein Gott, ich rufe bei Tag, doch du gibst keine Antwort; und bei Nacht, doch ich finde keine Ruhe....

10 Du bist es, der mich aus dem Schoß meiner Mutter zog, der mich anvertraut der Brust meinerMutter....

22 ... Du hast mir Antwort gegeben....

27 Die Armen sollen essen und sich sättigen; den HERRN sollen loben, die ihn suchen. Aufleben soll euer Herz für immer.

Wahrscheinlich ist für die allermeisten Leserinnen Psalm 22 verbunden mit Klage, Tod und Hoffnungslosigkeit. So ging es mir auch viele Jahre.

Ich hatte ihn abgespeichert als den Passionspsalm der Kreuzwegandachten, den Markus und Matthäus Jesus in der Sterbestunde in den Mund legen und der so wenig Hoffnung und Freude ausstrahlt.

Meine erste Entdeckung

Gott, meine Hebamme! Die Verse 10-11 beschreiben Gott als Hebamme, die schon lang vor der Geburt das werdende Leben begleitet. Wer diesen Psalm als eigenes Gebet nachspricht, wird eingeladen, sich mitten in der Klage an die ersten eigenen Erfahrungen mit Gott zu erinnern. 

Doch dann begann für mich eine vielfache Entdeckungsreise in diesem Psalm, die sicher noch nicht zu Ende ist.

Wir machen beim konzentrierten Beten des Psalms auch eine Art mystisch-meditative Rückreise an den Beginn unseres eigenen Lebens: Schon im Mutterleib bin ich geliebt und gewollt. Wie tröstlich und gut.

Man weiß heute, dass gerade vorgeburtliche Erfahrungen von "Willkommen-" oder eben auch "Unwillkommen-Sein" ein ganzes Leben prägen können.

Psalm 22 gibt mir das Vertrauen, dass für mein und jedes Leben von Anfang an die göttliche Zusage gilt: "Ja, herzlich Willkommen, ich freue mich auf dich!".

Auch während der Geburt arbeitet Gott als Hebamme für uns: Sie führt uns heraus ... und sorgt dann dafür, dass wir genährt werden mit Milch und mit Vertrauen. Ich kann oft nicht anders, als die große grundlegende Erfahrung Israels, durch das Wasser geführt, in der Wüste genährt, beschützt und motiviert zu werden, wie eine Geburt und eine Art "Hebammendienst" wahrzunehmen. Ja, unser Gott ist wirklich eine Geburtshelferin, die aus Fluten rettet!

Psalm 22 als ganzen Text zu beten, kann mir also helfen, meinen Zusagen zum Leben immer wieder zu vertrauen, sie lebendig werden zu lassen und dadurch eben auch lebensverneinenden Kräften widersagen zu können.

Meine zweite Entdeckung

Gott ist Gegenwart. In Vers 22 kann man wörtlich lesen: "Du hast mir geantwortet." Diese Variante steht nun auch in der überarbeiteten Fassung der Einheitsübersetzung (und jede sollte den Halbsatz in ihrem Gotteslob und den Exemplaren der eigenen Kirchengemeinde ergänzen!).

Denn genau diese Erfahrung, dass Gott geantwortet hat, hilft in Psalm 22 aus der Not der Gottesverlassenheit. Wie genau wir uns diese Antwort vorstellen dürfen, was genau Gottes Worte sind, das lässt dieses Gebet offen. Gut so!

Denn so wird das Bekenntnis zu einer Frage: Wie antwortet Gott mir? Was sind meine Erfahrungen, die ich gegen die Verlassenheit und Einsamkeit des Schweigens stellen kann? Vielleicht gibt der folgende Vers 23 einen Hinweis: Es ist der Name Gottes, der in der Gemeinde verkündet wird. Der Name Gottes lautet JHWH, "Ich bin, was ich bin". Ein Wortspiel mit dem Verb für sein.

Ich bin das Jetzt, die Gegenwart, das was immer ist, vollkommene Präsenz. Psalm 22 zu beten, kann mich motivieren, immer neu das Gespräch mit Gott zu beginnen und mir eine Antwort im Jetzt schenken zu lassen.

Meine dritte Entdeckung

Aufleben als Vision! In Vers 27 finde ich die grundsätzliche Vision meines Glaubens. Niemand hungert! Es gibt Nahrung für Leib und Seele. An dieser Stelle verlässt das Gebet die generelle Rede und wendet sich plötzlich ganz direkt an die Leserinnen: "Euer Herz soll aufleben für immer!"

Aufleben, leben, gesund werden, heilen, lebendig sein - all das wird uns zugesagt als Leserin und genau das sagen wir anderen zu, wenn wir Psalm 22 zu unserem Gebet machen. Hier geht es nicht nur um individuelles Glück, sondern um gutes Leben für alle.

Wenn unser "Herz" gesund wird, dann ist damit nicht einfach das Organ gemeint, das unser Blut durch den Körper fließen lässt und uns also im wahrsten Sinn des Wortes lebendig hält.

Ähnlich wie im Deutschen ist das Herz des Menschen voller Symbolik. Im Deutschen steht das Herz als Symbol vor allem für Gefühle der Liebe.

Im Hebräischen hat das Herz viele weitere Aspekte. Das Herz ist auch das körperliche Zentrum, mit dem wir Erkenntnis und Weisheit erwerben, mit dem wir denken, das uns mahnt, motiviert und antreibt wie ein Gewissen.

Alle unsere innersten Kräfte sollen aufleben, gesund werden und das alles soll uns zur Verfügung stehen für immer! Das ist eine für mich unglaubliche Vision: Wir haben alle unser sämtliches Potential zur Verfügung. Alles an innerer Kraft, Einfallsreichtum, Weisheit und natürlich auch an emotionaler Vielfalt bringen wir in die Welt.

Stand: 26.10.2020