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"Dem Leben vertrauen"

Fachleute halten die digitale Überwachung des Nachwuchses für den falschen Weg  

Von Katrin Raith

Das eigene Kind beschützen zu wollen gehört zum elterlichen Instinkt. Mit Hilfe von Smartphones oder speziellen Uhren scheint das ganz einfach zu sein. Fachleute warnen allerdings: Die Überwachung sorgt nicht für mehr Sicherheit.

Wenn Inga T. wissen will, wo ihr Sohn Henri steckt, nutzt sie eine digitale Anwendung (App) auf ihrem Smartphone. Die zeigt ihr sofort den Ort an, an dem sich der 14-Jährige gerade aufhält - ohne dass Henri das mitbekommt. "Ich habe mich schwer damit getan, ihn abends mit seinen Freunden weggehen zu lassen", sagt die Kölnerin. Dank der App fühlt sie sich sicherer. "Ich finde es unglaublich beruhigend, dass ich immer weiß, wo er ist, vor allem, wenn er sich mal verspätet."

Kontroll-Apps auf dem Smartphone, Uhren, die den Standort des Trägers verraten, Baby-Kameras, die die Bilder live und direkt übertragen: Es gibt für Eltern viele Möglichkeiten, ihre Kinder rund um die Uhr digital zu überwachen. Der Markt wächst, und die Produkte werden immer ausgefeilter. Die Anbieter profitieren von der Allgegenwärtigkeit von Smartphones und appellieren gezielt an die Urängste der Eltern.

Die deutsche Firma "Angelcare" (angel: Engel, care: Sorge, Obhut, Aufsicht), der selbsternannte "Schutzengel im Kinderzimmer", verspricht höchste Sicherheit fürs Baby. Die US-App "Mama Bear" (Mama Bär) behauptet: "Die Familie zu beschützen war nie leichter." Und "Weenect kids", die Ortungsgeräte für Kinder vertreiben, werben mit dem Slogan "Sicher und frei." Mehr Schutz für das Kind, weniger Sorgen für die Eltern?

Pädagogen, Kinderärztinnen und Datenschützer sehen die Versprechen kritisch. "Dass Eltern ihr Kind beschützen wollen, ist ganz normal und verständlich", sagt Cordula Lasner-Tietze, Geschäftsführerin des Deutschen Kinderschutzbundes. Aber eine digitale Aufrüstung, um jeden Schritt der Kinder zu überwachen, sei der falsche Weg: "Eine ständige Überwachung erzeugt eine Atmosphäre der Angst. Sie verstärkt bei Kindern und Eltern das Gefühl, sie lebten in einer so gefährlichen Welt, dass ständige Kontrolle erforderlich ist."

Dabei müsse jedem klar sein, dass es hundertprozentige Sicherheit nicht geben kann. "Mit der Ortung wissen Sie, dass sich Ihr Kind im Park aufhält. Sie wissen aber nicht, ob es mit seinen Freunden auf dem zugefrorenen See spielt", sagt Cordula Lasner-Tietze. Ebenso wenig könne eine Kamera im Kinderzimmer einen Unfall verhindern.

Auch der Münchner Medienwissenschaftler Marc Urlen rät entschieden von einer Dauerbeobachtung des Nachwuchses ab. "Es ist die Aufgabe von Eltern, Kindern ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln", sagt er. "Und es ist fatal, wenn sie die an irgendeine Technik abwälzen, die dann wie eine Instanz über allem schwebt." Dies könne bei Kindern und Jugendlichen mehr Schaden anrichten als Nutzen, warnen Erziehungsexperten: "Wer solche Apps einsetzt, zeigt doch vor allem, dass er seinem Kind misstraut", betont Marc Urlen.

Cordula Lasner-Tietze räumt ein: "Kontrolle ist manchmal gut und wichtig. Aber sie muss so gestaltet werden, dass das Kind sie versteht und annehmen kann." Ansonsten werde das Vertrauensverhältnis zu den Eltern beschädigt. In dieser Hinsicht sind manche Überwachungs- und Spionagetechnologien zumindest fragwürdig.

Mit Hilfe von Programmen wie "Mama Bear" oder "My Mobile Watchdog" ("Mein mobiler Wachhund") können Eltern heimlich kontrollieren, was ihr Kind in den sozialen Netzwerken macht. Sie können SMS mitlesen, Telefonate verfolgen und die Einträge im sozialen Netzwerk Facebook überprüfen. Und sollte der Nachwuchs mal wieder die Anrufe der Eltern ignorieren, können diese das Handy per App gleich ganz sperren. Das zumindest bleibt dann nicht unbemerkt.

Bei Uhren mit Ortungsfunktion ist das Anzeigen der Zeit längst Nebensache. Viele Modelle haben zusätzlich einen Notruf-Knopf und eine Funktion, mit der Eltern den Bewegungsradius des Kindes begrenzen können. Wenn es sich aus dem erlaubten Umfeld entfernt, schlägt die App Alarm. Ursprünglich hatten viele Uhren sogar eine Mithörfunktion. Die ist seit November 2017 in Deutschland allerdings gesetzlich verboten. Datenschützer weisen darauf hin, dass auch Minderjährige ein Recht auf Privatsphäre haben und warnen davor, dass man sich mit manchen der digitalen Überwachungstechniken sogar neue Gefahren ins Haus holt.

Aufgrund von Sicherheitslücken in der Software könnten Dritte etwa die mit dem Internet verbundenen Baby-Überwachungs­kame­ras angreifen, sagt Sandra Schwarz von der Stiftung Warentest. Dann werde der Alptraum aller Eltern wahr: Ein Fremder guckt dem Baby beim Schlafen zu. Eltern sollten sensibel für die Risiken der Digitalisierung sein, die Kamera nicht im Dauereinsatz lassen, auf verschlüsselte Verbindungen und sichere Passwörter achten.

Zufriedene Nutzer wie Inga T. argumentieren, dass ihr Sohn dank der Überwachungs-App mehr Freiheiten hat. Und eine Rund-um-die-Uhr-Beobachtung sei das nicht. "Ich checke immer nur mal kurz, wo er steckt", versichert sie. "Was er mit seinen Freunden dort macht, ist allein seine Angelegenheit. Da mische ich mich nicht ein." Inzwischen weiß Henri auch von der App. "Er fand das erst richtig blöd", erinnert sich die Mutter von zwei Söhnen. "Aber wir haben ihm erklärt, dass wir ihm dann mehr erlauben können, weil wir uns sicherer fühlen." Im Übrigen könne der 14-Jährige umgekehrt schauen, wo sie und ihr Mann gerade unterwegs seien. Das sei auch kein Geheimnis.

"Kinder müssen unbeobachtet spielen können und auch mal Grenzen überschreiten", hält Cordula Lasner-Tietze dagegen. "Sie brauchen Freiräume, um Selbstvertrauen zu entwickeln." Wichtig sei es, den Kindern Fähigkeiten zu vermitteln, stark durchs Leben zu gehen. Mit ihnen zu üben, wie sie Gefahren erkennen und vermeiden. Dazu brauche es ein enges Vertrauensverhältnis: "Eltern müssen immer wieder aufs Neue klären: Was kann mein Kind, was traue ich ihm zu, wo braucht es noch Hilfe - und dann loslassen." Das Bedürfnis, das Kind zu schützen, dürfe es nicht am Leben hindern.

"Hier ist etwas aus dem Gleichgewicht geraten", glaubt die Kinderärztin Karella Easwaran. Eltern hätten viel mehr Angst als früher und sie seien unsicherer. "Ihnen sind die Instinkte abhanden gekommen. Sie trauen sich nichts mehr zu und stellen auch ihre eigenen Beobachtungen und Erfahrungen in Frage", sagt Easwaran, die seit 20 Jahren eine Praxis in Köln hat.

Dies sei in der heutigen Zeit kein Wunder: Eltern stünden unter großem Druck, alles richtig machen zu müssen, glaubt die 52-Jährige. "Wir leben in einer Welt mit hohen Ansprüchen - vor allem an die Kinder." Auch der zunehmende Drang zur digitalen Kontrolle sei dieser Angst gezollt, sagt die Kinderärztin. Aber nicht die technologischen Entwicklungen an sich, sondern der Umgang mit ihnen sei zum Problem geworden: "Ich finde zum Beispiel Handys großartig. Die Frage ist doch: Nutze ich mein Mobiltelefon, um mich kurz mit meinem Kind abzusprechen, oder telefoniere ich ihm ständig hinterher und überwache es auf Schritt und Tritt. Das ist doch Stalking."

Eltern, insbesondere Mütter, würden mit ihren Sorgen oft allein gelassen, findet Karella Easwaran. Ihnen fehle es an Unterstützung und Orientierung durch Familie, Freunde, Nachbarn, jemand, der zuhört, Ruhe und Sicherheit in die neue Lebenssituation bringt. Angst dagegen sei ein schlechter Ratgeber. Es gelte daher, die Spirale der negativen Gefühle zu durchbrechen. Sie betont: "Wir müssen wieder lernen, auf das Leben zu vertrauen." Schließlich gebe es in Deutschland eigentlich eher selten Grund für ernsthafte Sorgen.

Stand: 28.08.2018