Kopf oder Herz?
Wie die Liebe entsteht
Von Christian Wolf
Die wohl mächtigste Kraft in unserem Leben aus zwei Perspektiven: Für die Naturwissenschaften ist die romantische Liebe ein Trick der Natur, um die Fortpflanzung zu sichern. Für die historische Forschung ist sie vor allem eine späte Erfindung der Kulturgeschichte.
Die Schmetterlinge im Bauch bei frisch Verliebten - lediglich ein geschickt gemixter Hormoncocktail? Die intime Liebe zwischen zwei Menschen - bloß eine nützliche Illusion, um die Fortpflanzung zu sichern? Der naturwissenschaftliche Blick auf die romantische Liebe ist nüchtern: Für die sogenannte evolutionäre Psychologie ist nicht nur unser Körper, sondern auch unser Seelenleben ein Produkt der Evolution.
Glaubt man diesem Forschungszweig, dann hat die Natur mit der Erfindung der romantischen Liebe tief in die Trickkiste gegriffen, um das Überleben der Spezies Mensch zu sichern. Als unser Gehirn im Laufe der Evolution immer größer wurde und es in Folge dessen immer länger dauerte, bis es sich entwickelte, war der Nachwuchs auch immer länger auf die Pflege seiner Eltern angewiesen.
Damit beide Eltern die Kinder für eine lange Zeit unter ihre Fittiche nehmen, habe die Evolution die Liebe und die Paarbeziehung ausgeprägt. So plausibel solche Erklärungen klingen mögen, sie bleiben spekulativ, wie Kritiker einwenden. Wir können letztlich nicht wissen, ob es sich in der Entwicklungsgeschichte so oder doch ganz anders zugetragen hat.
Weniger spekulativ ist, was die Hirnforschung zum Thema Liebe zu Tage fördert. Die Neurowissenschaftlerin Stephanie Cacioppo von der Universität Genf berichtete in einer Studie, dass leidenschaftliche Liebe Hirnareale entfacht, die mit Euphorie, Belohnung und Motivation in Verbindung gebracht werden. Der Blick auf die Hormone geht in eine ähnliche Richtung. Gerade in der Phase des Verliebtseins überschwemmt Dopamin das Gehirn. Im Volksmund gilt dieser Botenstoff als Glückshormon.
Zwar ist das eine etwas zu grobe Vereinfachung. Aber er spielt tatsächlich bei Belohnungen im Gehirn und bei Euphorie eine Rolle. Nach den stürmischen Monaten einer neuen Liebe gelangen Paare allmählich in ruhigere Gefilde. Hier kommt das Hormon Oxytocin zum Zuge. Es wird verstärkt in Phasen romantischer Bindung ausgeschüttet. Das Hormon mischt allgemein beim zwischenmenschlichen Verhalten mit. Es wird während der Geburt und beim Stillen im mütterlichen Gehirn ausgeschüttet und stärkt so die Bindung zum Säugling. Aber auch bei liebevollen Berührungen aller Art bis hin zum Orgasmus wird der Stoff bei Frauen und Männern freigesetzt, daher sein Ruf als "Liebes- und Kuschelhormon".
Ist also in Sachen Liebe alles eine Frage des richtigen Cocktails im Gehirn, der letztlich der Fortpflanzung dient? Was die Hirnforschung manchmal aus dem Blick verliert: Liebe ist ein komplexes Phänomen mit vielen Facetten. Das spiegelt sich auch in psychologischen Modellen wider. Ein bekanntes stammt von dem Psychologen Robert Sternberg. Neben emotionalen Aspekten der Liebe, die häufig die naturwissenschaftliche Arbeit dominieren, betont Sternberg auch einen verstandesmäßigen Aspekt. Er besteht in der rationalen Entscheidung, jemanden zu lieben und eine Bindung mit ihm einzugehen.
Auch der Historiker Benno Gammerl vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin steht der Idee skeptisch gegenüber, Liebe entspringe in erster Linie einem biologischen Fortpflanzungstrieb. Damit würde jede Form der Liebe unnatürlich, die nicht der Fortpflanzung dient. "Das wird der Komplexität der Liebe nicht gerecht."
Gammerl schaut auf das Thema Liebe aus einem anderen Blickwinkel: der Kulturgeschichte. Für uns ist die Vorstellung der romantischen Liebe heute so selbstverständlich, dass man leicht auf die Idee kommen könnte, es habe sie schon immer gegeben. "Doch die Idee der romantischen Liebe kam in Deutschland erst gegen Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts auf", sagt Benno Gammerl. Sie entsprang der Bewegung der Romantik: "Die Impulse kamen aus der Literatur in Form von Schriften von Friedrich Schlegel, und noch früher in Gestalt von Goethes ,Die Leiden des jungen Werther'."
Es ging den Romantikern um eine Idee von Liebe, die keine anderen Interessen kennt als sich selbst. Diese Bewegung wandte sich gegen die damaligen bürgerlichen Vorgaben. "Vor allem richteten sich die Romantiker gegen die gesellschaftliche Praxis, Ehe und Beziehungen unter dem Aspekt des Nutzens zu betrachten", so Gammerl.
Natürlich habe es auch zuvor schon Beziehungen gegeben, die ausschließlich auf Gefühlen beruhten. Es finden sich schließlich auch schon mittelalterliche und frühneuzeitliche Liebesgeschichten. Aber Ehe- und Familiengründung seien bis dahin von materiellen, gesellschaftlichen und politischen Überlegungen bestimmt gewesen. Arrangierte Ehen waren an der Tagesordnung. Die Entscheidung, wer wen heiratete, trafen nicht die Betroffenen selbst.
Zum einen hatten die Eltern ein Mitspracherecht und legten Wert auf prestigeträchtige Ehen. "Zum anderen gab es auch strenge staatliche und rechtliche Regeln, wer heiraten durfte und wen man heiraten durfte", sagt Benno Gammerl. Der Historiker verweist auf Formen des Eherechts in vielen deutschen Staaten, denen zufolge etwa Grundherren oder Vorgesetzte von Beamten eine Erlaubnis zur Ehe erteilen mussten. Im Mittelpunkt stand das Vermögen des Heiratswilligen. "So konnte man etwa Fabrikarbeitern das Heiraten untersagen mit dem Argument, ihre ökonomische Situation erlaube es ihnen nicht, einen eigenständigen Familienhaushalt zu begründen."
Die endgültige Wende zur modernen romantischen Liebe als Grundlage von Beziehungen kam im Zuge des Übergangs vom 19. zum 20. Jahrhundert, als sich die Gesellschaft in eine Gesellschaft der Angestellten wandelte. Der Familienverbund, bei dem die Eltern und Großeltern die Wahl des Ehepartners mitbestimmten, verlor allmählich an Einfluss. Die Ehe wurde eine individuelle Entscheidung der Liebenden. Es ging zunehmend darum, zu wem man sich selbst hingezogen fühlte.
Gammerl: "Viele junge Frauen und Männer kamen damals als Singles in die großen Städte und arbeiteten als Angestellte." Das habe neue Beziehungsformen ermöglicht. Vor allem löste die Klein- die Großfamilie ab. Politisch-gesellschaftliche Entwicklungen spielten ebenfalls eine Rolle. So hatten Menschen im Laufe ihres Lebens zwar auch schon wechselnde Partner, als das religiöse Gebot der unauflöslichen Ehe noch uneingeschränkt galt.
"Durch die Entscheidung des Gesetzgebers, Scheidungen als rechtlich zulässig zu erachten, ließ sich die Idee der Lebensabschnittspartner aber leichter verwirklichen und gesellschaftlich rechtfertigen", sagt Benno Gammerl. Eine Entwicklung, die bis heute anhält. Ob man nun Liebe als Trick der Natur betrachtet, um die Fortpflanzung zu sichern, oder als eine späte Erfindung der Kulturgeschichte: Sie bleibt die wohl mächtigste und faszinierendste Kraft in unserem Leben.