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Werdet wie die Kinder

Sich als Menschen zu begegnen kann ganz einfach sein

Von Regina Käsmayr

Wie baut man Brücken, über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg? Eigentlich braucht es dazu nicht viel. Manchmal reicht es einfach, Kindern zuzusehen, um zu erkennen, wie leicht es sein kann. In dem hessischen Wohnort unserer Autorin haben Kinder es spielend geschafft, Flüchtlinge und Deutsche zusammenzubringen.

Wenn die Kirchturmuhr in unserem Dorf am Abend sieben Uhr schlägt, gehen die Kinder nach Hause. An diese Regel halten sich auch alle kleinen Fußballer auf dem Schulsportplatz. Alle, nur einer nicht: mein Sohn Robin. Eines Tages stampfte ich also um viertel nach sieben wutentbrannt zum Sportplatz, während zu Hause das Essen kalt wurde. Dort angekommen, verpuffte mein Zorn angesichts der Szene, die ich beobachten konnte: Als einziges deutsches Kind stand Robin noch auf dem Feld, er gestikulierte wild nach rechts und links, gleichzeitig gab er dem Torwart lautstarke Anweisungen.

Letzterer war weiblich, ungefähr neun Jahre alt, und trug ein Kopftuch. Die Stürmer, etwa im gleichen Alter, männlich und mit dunklem Teint. Ob irgendjemand verstand, was er rief, war meinem Sohn offenbar egal. Er verfolgt seine Ziele auf seine eigene Art. Das Runde muss in das Eckige - solange das funktioniert, sind ihm Geschlecht, Kleidung und Hautfarbe seiner Mitspieler egal.

Der Ärger über sein Zuspätkommen verrauchte sofort: Das, was ich hier gerade erleben durfte, war Integration pur. Und die Kinder hatten es völlig ohne Erklärung, ohne Anleitung und auch ohne Sprachkenntnisse geschafft. Ganz im Gegenteil zu uns Erwachsenen. Das machte mir ein Blick nach links klar. Dort nämlich saßen die Familien der Flüchtlingskinder auf einer Decke am Boden und tranken Tee.

Und was war mein erster Impuls? Ignorieren, Kind nach Hause rufen, weiter im Alltag. Immerhin sehen diese Menschen so dunkel aus. So fremd. Kopftücher, ernste Mienen, schwarze Haare. Einer davon ist mir doch neulich in einer einsamen Ecke entgegengekommen. Schon da habe ich instinktiv den Kopf eingezogen. Und überhaupt - dieses Rumsitzen auf Decken. Das macht man nicht, oder? Zumindest nicht bei uns im Dorf.

Ich hatte mich erwischt. Mich, die ich so gerne von Toleranz und Willkommenskultur spreche. Im Grunde war ich selber ein engstirniger Feigling. Aber wer will das schon sein? Also weg mit dem negativen Gedankengut. "Mach es wie dein Sohn", sagte ich mir und marschierte auf die Flüchtlingsfamilien zu. Die waren genau eine Sekunde lang irritiert, als ich vor ihrer Decke stehen blieb und "Hallo" sagte. Dann grüßten sie zurück und eine Frau fragte: "Du Tee?" Also setzte ich mich dazu.

Das Fußballspiel ging weiter, das Essen zu Hause wurde noch kälter, und wir Erwachsenen nahmen uns ein Beispiel an den Kindern. Wir redeten mit Händen und Füßen. Nach 20 Minuten wusste ich so viel: Die beiden Familien kamen aus Afghanistan, wo sie vor den Taliban fliehen mussten. Sie sind nun seit fünf Monaten in unserem Dorf, und ich war die erste, die mit ihnen Tee trinkt. Sie würden gerne unsere Sprache lernen, aber die Zugfahrt in die nächste Kleinstadt zum Deutschkurs ist so teuer, dass sie es sich nicht leisten konnten.

Also beschloss ich spontan, einen privaten Deutschkurs zu organisieren. Ich bin keine Lehrerin. Auch meine Freundin Sylvia nicht, die sich sofort bereit erklärte, dabei zu helfen. Aber wir wissen, wo man sich entsprechendes Unterrichtsmaterial besorgt. Und im Grunde ist es doch egal, ob das alles pädagogisch-didaktisch wertvoll ist, was wir tun. Hauptsache wir kommen miteinander ins Gespräch. Das Vorhaben sprach sich sofort herum. Im Laufe der nächsten Wochen schloss sich eine bunt gemischte Gruppe zusammen: Die Afghanen und wir, eine Familie aus Somalia, die schon länger im Dorf wohnt, und wechselnde Kinder.

Die Kinder sind der Motor der gesamten Aktion. Mal rennen sie davon und spielen Fußball. Mal sitzen sie neben uns und helfen beim Übersetzen. Und ständig spielen sie pantomimisch Dinge nach, die wir nicht erklären können. "Sie rennen." "Sie laufen." "Sie werfen den Ball hoch." "Sie werfen den Ball hin und her." "Sie streiten." Die Kinder machen alles so einfach. Sie bringen uns zum Lachen, schenken uns immer neuen Stoff zum Lernen.

Als ich das erste Mal die Wohnung von Fatema, Zarah und Nasrullah betrat, entdeckte ich ein Foto von Robin auf ihrem Regal - schon lange, bevor ich mich aufgerafft hatte, sie in mein Herz zu schließen, hatten sie dasselbe bereits mit meinem Sohn getan! Wir lernten auch die andere Seite dieser Familien kennen: die traumatisierte, zutiefst verletzte Seite. Wir hörten von den zahlreichen Verlusten, unter denen diese Menschen zu leiden hatten.

Der Vater tot, zwei weitere Geschwister im Kriegswirrwarr verschollen. Fatema würde gern wieder heiraten. Sie fühlt sich unsicher, durfte niemals Lesen und Schreiben lernen, weiß nicht, wohin mit ihrem Leben. 40 Jahre Taliban haben sie geprägt. "Lass dir Zeit", sage ich. "Komm erst mal hier an." Eines wird ganz schnell klar: Die Erwachsenen werden es nicht alle schaffen. Khodadad vielleicht, der so schnell neue deutsche Worte aufsaugt, dass man Angst kriegen könnte. Ich verstehe überhaupt nicht mehr, dass ich ihn einmal unheimlich fand, denn er lächelt so wunderbar offen. Vielleicht auch seine Frau Hatice, denn sie ist erst 28 und will ganz neu anfangen.

Aber viele andere ältere Flüchtlinge werden vielleicht nie auf eigenen Beinen stehen. Dafür sind sie zu entwurzelt, zu traumatisiert und zerstört. Aber die Kinder! Man muss nur Said, Fato und Abdinasir aus Somalia anschauen. Wäre ihre Haut nicht so dunkel, käme niemand auf die Idee, sie als Ausländer zu bezeichnen. Sie reden allesamt mit hessischem Slang, fangen Sätze mit "Ei, gelle..." an. Sie gehen mit ihren Eltern zum Einkaufen, auf Ämter und zum Elternsprechabend. Weiß der Himmel, ob sie dabei alles ehrlich übersetzen oder ihre schulischen Leistungen schönreden. Aber sie tragen fast die komplette Verantwortung - im Grunde eine viel zu schwere Last für so kleine Schultern.

Insgesamt neun Kinder hat die afrikanische Familie. Und sie alle haben das Potenzial, etwas Besonderes aus ihrem Leben zu machen. Aber keines dieser Kinder kam unbelastet hier an. Sie bringen Probleme mit, die es zu lösen gilt. Zahra und Nasrullah haben Bomben fliegen und Menschen sterben sehen. Sie wurden entwurzelt und seelisch erschüttert. Trotzdem sind sie jetzt hier. Mit Gedanken wie "Ich möchte Modedesignerin werden" und "Mein Traumberuf ist Fußballstar ... oder Schneider."

Rund 300.000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren haben allein in den 18 Monaten bis Juli dieses Jahres einen Asylantrag gestellt. 300.000 Träume. 300.000 Chancen. Für mich sind die Kinder der Flüchtlinge, genau wie unsere eigenen, die wahre Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Wenn sie miteinander Fußball spielen können, dann werden wir Erwachsenen doch wohl eines Tages auch zu fairen Spielerinnen und Spielern werden. Seit dem ersten Tee, den ich mit meinen neuen afghanischen Nachbarn getrunken habe, und dem ersten Wort, das ich auf Persisch gelernt habe, ist mir das nun endgültig klar. Dieses Wort war übrigens "Salam!". Es heißt "Hallo!" Man sollte es viel öfter benutzen.

Stand: 20.12.2017