Kraft schöpfen
In der Flüchtlingshilfe kommt es darauf an, die Ressourcen aller wahrzunehmen und zu fördern
Von Nikola Hollmann
Für Birgit Reis ist die Situation eigentlich unkompliziert. Es gibt viel zu tun in der Hilfe für Flüchtlinge, und sie hat viel Zeit. Und viel Kraft. Also macht sie, was nötig ist, zwei bis fünf Stunden am Tag. Ehrenamtlich. Sie ist Realistin, und sie ist zufrieden. Unterstützung hat sie als Teilnehmerin eines Pilotprojektes erfahren. Birgit Reis kennt sich gut.
"Ich bin ein Sensibelchen, ich muss auf mich aufpassen." Um gar nicht erst in die Überforderung zu kommen, von der inzwischen viele Flüchtlingshelfer sprechen, damit sie gewappnet ist, wenn Schwierigkeiten auftauchen, nimmt sie an dem Pilotprojekt "Resilienzförderndes und kultursensibles Denken und Handeln in der Flüchtlingshilfe" teil. Es wird gefördert von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und durchgeführt vom "Institut für Forschung und Entwicklung in der Sozialen Arbeit" an der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach.
Wie kann man die Helferinnen und Helfer stärken und damit gleichzeitig die Ressourcen der Geflohenen sichern und ausbauen? Ziel des Projektes ist es, ein Schulungshandbuch zu entwickeln, das Träger wie die Caritas oder die Diakonie dann für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, haupt- wie ehrenamtliche, nutzen können. Denn neben den zahlreichen Schulungsangeboten, in denen Asylrecht und andere formale Qualifikationen im Mittelpunkt stehen, gebe es noch wenig Unterstützung, wenn es um die Ressourcenstärkung geht, sagt Projekt- und Institutsleiterin Ann Marie Krewer.
Resilienz versteht sie als die Kräfte, die dazu befähigen, schwierige Lebenssituationen zu meistern: "Jeder hat diese Kraft." Und es gebe Möglichkeiten, diese zu wecken. Zum Beispiel indem man lerne, den Blick auf gut gelungene Begegnungen zu lenken, auf persönliche Erfolgserlebnisse. "Was hat mir in dieser Situation Kraft gegeben?", sei eine hilfreiche Frage. "Ich kann nur dann eine Unterstützung sein für andere, wenn ich in meiner eigenen Kraft bin", ist Krewer überzeugt.
Auf sich selbst zu achten nützt also auch dem Gegenüber. Was nicht so leicht ist, wenn man über Monate an seine Grenzen geht, zeitlich und psychisch. An ihren Grenzen scheint Birgit Reis noch nicht zu sein. Sie ist ohnehin keine Frau für halbe Sachen, aber sie schaut auch genau hin. Und bisher erfährt sie ihr Engagement als beglückend und stärkend. Zuerst ging sie den üblichen Weg, zum Helferkreis des Sozialdienstes katholischer Frauen und Männer (SKFM) in Düsseldorf.
Als Lotsin ließ sie sich eintragen, aber daraus wurde eben immer mehr: Als sie eine syrische Familie erst einmal kennengelernt hatte, wurde sie bald zur wichtigsten Vermittlerin - für eine eigene Wohnung in Düsseldorffür die Anerkennung der Zeugnisse, für einen Job für den Vater, für die Einschulung der Kinder. Manches machte sie selbst, einiges delegierte sie. "Ich weiß, was ich kann und was ich nicht kann", sagt sie. Mit Schule kennt sie sich beispielsweise gar nicht aus, schließlich hat sie keine eigenen Kinder.
Aber die Wohnung nebenan, die gehört ihr und ist gerade frei geworden. Also kann sie an eine andere syrische Familie vermieten. Eins führe halt zum anderen, sagt sie. Und das in rasender Geschwindigkeit. Vor drei Jahren hat sie mit 60 ihren Job in der Bekleidungsindustrie gekündigt. Sie wollte noch einmal etwas anderes machen. Ein bisschen gereist sei sie, und dann "kam das mit den Flüchtlingen", und sie habe sofort gewusst: "Das ist es."
Und dann ist sie eben durchgestartet. Andere sagen Sätze wie diese: Wir stehen in den Startlöchern und erwarten die neue linksrheinische Flüchtlingsunterkunft. Energisch schüttelt die 63-Jährige den Kopf: "Ich stecke in keinem Startloch. Ich tue, was ich kann." Und das ist wirklich viel. Eines ihrer Projekte: Sie organisiert einen wöchentlichen Kochnachmittag für Frauen, Deutsche und Geflüchtete. Der ganzheitliche ökologische Verein, dem sie schon seit 25 Jahren angehört, hat seine Räume zur Verfügung gestellt. Birgit Reis ist Klinkenputzen gegangen, damit die Frauen Vertrauen zu ihr fassten, sie kennenlernten und sich am Ende entschließen konnten hinzugehen.
Eine bunte Mischung kommt da inzwischen regelmäßig zusammen: Albanerinnen, zwei junge Frauen aus Marokko, Deutsche, eine Griechin mit ihren Kindern, eine Deutsche türkischer Abstammung aus der Nachbarschaft und einige Syrerinnen unterschiedlichen Alters. Auch hier im Mittelpunkt und mit dem nötigen Überblick: Birgit Reis. Wie ist dieses Pensum zu schaffen? "Die Arbeit macht mir viel Spaß, es ist positiver Stress", antwortet Reis und führt den Besuch in den Garten.
Auf Rheinkieseln haben die Frauen in ihrer Sprache, in Deutsch oder Englisch Wünsche aufgeschrieben. Auf einem steht: We love you - wir lieben dich. Reis strahlt: Was will man mehr? An den Modulen des Pilotprojekts und dem begleitenden Austausch in Kleingruppen habe sie teilgenommen, um vorbereitet zu sein, wenn es einmal nicht mehr so läuft, erzählt Reis während des Essens, für das sie am längsten braucht, weil immer wieder eine der Frauen kommt, die sie etwas fragen möchte.
Denn es gibt da doch die eine Sache, die ihr jetzt schon zusetzt: Diese Erkenntnis, dass da auf der einen Seite vieles wächst, das ihr Erfüllung und Glück schenkt, dass auf der anderen Seite aber auch eine ungeahnte Distanz entsteht. Viele verstehen nicht, was sie tut, warum sie es tut. Freundschaften zerbrechen an diesem Unverständnis. Vor allem nach den Ereignissen in der Silvesternacht.
Für die Flüchtlingshelfer habe sich nichts geändert, aber im privaten Umfeld sehr viel: "Die Gesellschaft soll sich nicht spalten", sagt Birgit Reis. "Aber die Welt ändert sich völlig für mich." Der Bekanntenkreis? "Ich muss mich fragen, wer noch meine Freunde sind." Diese Erfahrung teilt Birgit Reis mit den anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Pilotprojektes. Auf die konkrete Arbeit wirke sich das nicht aus, erzählen die Helferinnen und Helfer, aber sie müssen sich stärker rechtfertigen für das, was sie tun.
Das sachliche Argumentieren, das sei eine gesicherte Erkenntnis, helfe in solchen Situationen nicht weiter, weiß Projektleiterin Ann Marie Krewer. In den Kursen lernen die 18 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, sich ihrer eigenen Vorurteile bewusst zu werden und so auch Verständnis für die Ängste ihres Gegenübers zu entwickeln. Wenn es gut läuft, können sie so ein konstruktives Gespräch anleiten lernen. Manchmal sei es aber auch ein Zeichen von Stärke, zu erkennen, dass etwas nicht guttut, dass ein Konflikt nichts nützen wird - und dann auch in der Lage zu sein, ihn zu beenden.
Das ist durchaus schwere Kost, weiß Ann Marie Krewer aus vielen Gesprächen. Aber auf der anderen Seite steht viel Bereicherndes: die neuen Menschen, der neue Horizont, die Dankbarkeit für die enorm stärkenden Begegnungen über die Kulturen hinweg. Damit dies für beide Seiten gilt, ist der kultursensible Aspekt so wichtig: "Es ist notwendig, aus der Hierarchie herauszukommen", betont Ann Marie Krewer: Die Menschen, die es bis hierher geschafft haben, sind starke Persönlichkeiten.
Sie in dieser Stärke ernst zu nehmen fördere wiederum auch ihre Anpassungskräfte, die sie für eine gelingende Integration brauchen. "Diese Menschen sind keine Bittsteller", sagt auch Birgit Reis. "Sie sind aus guten Gründen hier." Ihr reicht das. Aus welchen Gründen genau, das weiß sie manchmal gar nicht - sprachliche Barrieren sind eben doch nicht nur mit gutem Willen zu überwinden.
Aber das Gefühl vermitteln, dass die Frauen sich beim gemeinsamen Essen willkommen fühlen, das geht auch so. Hände zum Zeigen, geteiltes Essen, eine Umarmung - dafür brauchen die Frauen keine gemeinsame Sprache. "Ich kann die Zukunft gestalten, wenn ich an eine Sache glaube", ist Birgit Reis überzeugt. "Wir brauchen die positiven Menschen, die, die sagen: Wir schaffen das!"
Deswegen war ihr die Teilnahme am Projekt so wichtig: Weil dort Gleichgesinnte sind, Menschen, die ihr Herz öffnen und sich gegenseitig unterstützen. Auch hier neue Begegnungen, die stärken. Birgit Reis ist Realistin: "Ich kann nicht allen helfen. Es ist ein Fass ohne Boden." Sie versuche, diese Tatsache zu akzeptieren und auszuhalten, "die Trauer und die Frustration anzunehmen als Teil meiner selbst". Ihr Rezept: "Im Hier und Jetzt leben. Und jetzt sitzen wir hier zusammen, jetzt haben wir miteinander zu tun. Und wenn wir auseinandergehen, nehmen wir alle diese Erinnerung mit."