Europa: Neugründung von unten
Was die Europäische Union in ihrer derzeitigen Krise braucht
Von Stefan Leifert
Die Europäische Union steht vor der größten Bewährungsprobe ihrer Geschichte. Um die Gemeinschaft zu retten, der Europa seine bisher friedlichste und wohlhabendste Epoche verdankt, braucht es die Erkenntnis, dass sie nicht nur ein Projekt der Politiker ist, sondern die Gemeinschaft seiner Bürgerinnen und Bürger.
Diese Nacht werden Brüsseler Journalisten wohl nicht vergessen. Gegen halb zwei Uhr morgens beginnen die Smartphones mit ersten Ergebnissen aus Großbritannien zu brummen. Zunächst mit der erwarteten Nachricht, dass beide Lager gleichauf lägen. Doch je näher das Morgengrauen rückt, desto näher kommen die EU-Gegner ihrem Traum, an den sie zuletzt schon selber nicht mehr glaubten. Gegen halb fünf ist klar: Die Befürworter eines EU-Verbleibs haben keine Chance mehr.
Der kleine Platz vor dem Gebäude der EU-Kommission beginnt sich mit Kamerateams und Übertragungswagen aus aller Welt zu füllen. Als Europa erwacht, steht fest: Großbritannien will die EU verlassen. Nie hat man Brüssels sonst so kontrollierte Politiker und Spitzenbeamte so aufgewühlt erlebt wie an diesem Tag. Tränen fließen, Stimmen zittern. Jeder, der an diesem Morgen zur Arbeit geht, weiß: Dies ist ein Einschnitt.
Die EU kannte bis zu diesem 24. Juni 2016 immer nur die eine Richtung: mehr, weiter, tiefer. Seit ihrer Gründung bestand das Projekt EU in Erweiterung, Vertiefung, Integration. Der Brexit kehrt diese Bewegung um. Die EU durchlebt in diesen Wochen die größte Bewährungsprobe ihrer Geschichte. Die Fliehkräfte zerren an ihr wie nie: Anti-Europa-Populisten auf dem Vormarsch, eine tiefe Entzweiung in der Flüchtlingskrise, sich ins Nationale zurück flüchtende Regierungen wie in Polen und Ungarn, eine neue Dimension von Terror, einen immer schwierigeren Partner Türkei, erbitterte Kriege in der Nachbarschaft. Dass die EU nun noch den Austritt eines ihrer größten Mitgliedsländer verhandeln muss, kommt zur Unzeit.
Was nun? Die Gemeinschaft braucht einen Befreiungsschlag, sonst ist sie bald Geschichte. Die Zeit drängt, denn der französische Wahltermin im Frühjahr 2017 hängt wie ein Damoklesschwert über Europa. Sollte Marine Le Pen tatsächlich den Erfolg schaffen, vor dem sich in Brüssel alle fürchten, "dann können wir hier dicht machen", prophezeien düster Diplomaten. Es wäre der große Sieg der Anti-Europäer über die EU, der Anfang vom Ende. Doch wie soll so ein Befreiungsschlag aussehen?
Die Antwort der einen: mehr Europa! Die Antwort der anderen: bloß nicht mehr Europa! Die Pole der Debatte könnten weiter nicht auseinander liegen. In mehr Vertiefung, weiterer Integration, Abgabe neuer Befugnisse nach Brüssel sehen die einen die Lösung. Das Argument: Nur wenn Kommission, Rat und Parlament arbeiten wie eine echte Europa-Regierung, kann das Gebilde EU auch wirklich funktionieren. Im Gegenteil sehen die anderen den Weg aus der Krise: Stopp mit der Erweiterung, keine neuen Kompetenzen für Brüssel, sondern stattdessen pragmatisch Probleme lösen, ohne dabei Grundsatzdebatten zu führen.
Langfristig haben beide Lager recht: Die EU wird nicht darum herumkommen, endlich die Frage zu beantworten, was sie eigentlich sein will: ein Staatenbund oder ein Bundesstaat. Soll sie eine Art europäische Finanz- und Wirtschaftsregierung sein, muss sie auch dazu ausgestattet werden, mit Durchgriffsrechten auf Haushalte, einem europäischen Finanzminister und eigenem Budget. Doch für solche tiefgreifende Reformen ist jetzt nicht der Zeitpunkt. Bevor man der EU neue Strukturen verpasst, braucht sie eine Neugründung in den Köpfen ihrer Politiker und Bürger.
Hinter dem wachsenden Hass auf Europa steckt mehr als die Unzufriedenheit über Politik aus Brüssel. Die Sehnsucht nach dem Rückzug ins Nationale ist ein Reflex auf die Wucht der Globalisierung, die Europa gerade trifft. Migrationsströme, TTIP, der neue Kalte Krieg, Asiens Aufstieg - die Komplexität der Welt macht die Komfortzone Nationalstaat attraktiv, und das ist fatal. Die Präsidenten-Wahl in Österreich, das Ukraine-Referendum in den Niederlanden, der Aufstieg der AfD in Deutschland, die Fünf-Sterne-Bewegung in Italien belegen diesen Reflex eindrucksvoll.
Dass die einfachen Antworten Konjunktur haben, ist nicht allein die Schuld der "Brüsseler Bürokraten", als die Europapolitiker gerne verunglimpft werden. In den Hauptstädten von Lissabon bis Helsinki ist es Tradition, für alles Übel Brüssel und die EU verantwortlich zu erklären, Erfolge hingegen stets aufs nationale Konto zu buchen. Auf Dauer wird das nicht gut gehen. Die politische Klasse in den Ländern Europas ist gut darin, Schuld zuzuweisen, aber schlecht darin, den Sinn der EU unters Volk zu bringen. Es ist höchste Zeit, damit Schluss zu machen. Denn zu den einfachen Antworten gehört auch: Ohne Europa geht es nicht.
Die nationalen Antworten auf die Flüchtlingskrise etwa haben das gezeigt, Zäune, Mauern, Grenzschließungen sind Schein-Lösungen. Wer Europas Probleme im Alleingang lösen will, schiebt sie auf andere ab: Die Grenzschließungen entlang der Balkan-Route haben Griechenland an den Rand einer humanitären Katastrophe gebracht. Erst der Türkei/EU-Aktionsplan und NATO-Einsatz schufen die Basis für eine gesamteuropäische Lösung, die jedoch noch immer an mangelnder Bereitschaft vieler Länder krankt, Flüchtlinge aufzunehmen.
Auch wenn das auf den Marktplätzen und in Talkshows wenig Applaus einbringt: Europas Politiker müssen endlich die Botschaft vermitteln, dass Europa nicht Teil des Problems, sondern der Lösung ist. Dass nicht Angst und Rückzug die Antwort auf die Globalisierung sind, sondern Zusammenarbeit der Länder Europas. Die derzeitigen Krisen können dabei zur Chance werden: Ein Europa, das eine Antwort auf die skandalös hohe Jugendarbeitslosigkeit in vielen Ländern findet, muss niemandem mehr seine Existenz rechtfertigen. Ein Europa, das der Flüchtlingskrise Herr wird, ohne seine Grundsätze zu verraten, würde Geschichte schreiben. Ein Europa, das sich für den Handel mit Amerika einheitliche Regeln gibt, ohne seine Verbraucher im Stich zu lassen, wäre gewappnet für den Wettbewerb mit den Aufsteigern aus Asien.
Aber den Politikern alleine die Rettung Europas zu überlassen, das wäre zu einfach. Die Millionen Bürger des Kontinents müssen sich fragen lassen, wovon sie mehr für ihr Leben erwarten: von einem Europa, dessen Länder sich zusammenschließen oder einem Heimatland, das sich abschottet? Von einem europäischen Binnenmarkt, der Zölle aufhebt und gleiche Bedingungen für alle schafft, oder einem abgeschotteten Heimatmarkt? Von einem Europa, das die Migrationsströme als gemeinsame Herausforderung begreift oder einem Heimatstaat, der Mauern um sich baut? Von einem Kampf gegen den Terror, der an den Grenzen des Heimatlandes endet oder einem, in dem sich die Dienste miteinander vernetzen?
In der aufgeheizten politischen Arena tobt mehr als ein Kampf um mehr oder weniger Europa. Es ist auch ein Kampf der Systeme geworden. Der Wunsch nach Rückbesinnung auf den Nationalstaat paart sich in den vielen Anti-Europa-Bewegungen mit der Sehnsucht nach einem autoritären System. Die Sympathien, die viele AfD-Anhänger für Wladimir Putin hegen, sprechen Bände. Man muss nicht, aber man kann den rasanten Umbau der Türkei zum autoritären Führerstaat als Warnung heranziehen, als Warnung vor dem, was sich aus mancher Sehnsucht nach einfachen Antworten und starker Hand entwickeln kann.
Die Leichtfertigkeit, mit der manchem die Forderung nach Abschaffung von EU oder schmerzhaft erkämpften demokratischen Strukturen über die Lippen geht, ist erschreckend. Das Rennen geht in seine vielleicht entscheidende Phase. Es geht um Europa und seine demokratische Kultur. Europa braucht eine Neugründung - nicht nur von oben, sondern vor allem von unten.