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Einen Platz im Leben


Ein Ehepaar aus Trier hat einen jungen Flüchtling aufgenommen

Von Ingrid Fusenig

Zwei Nächte sollte ein minderjähriger Flüchtling aus Afghanistan bei Familie Schmitz in Trier schlafen dürfen. Das ist jetzt mehr als zwei Jahre her, in denen alle Beteiligten Grenzen überschritten und viel über das Leben gelernt haben. Sie sind zusammengewachsen – wie eine Familie. 

Wenn Alireza von seiner Kindheit in Kandahar spricht, strahlt er übers ganze Gesicht. Gestenreich und temperamentvoll berichtet er in fließendem Deutsch munter drauflos. Von seinen Eltern, den Geschwistern, den Haustieren. Alireza erzählt anschaulich und detailliert. Man kann sich lebhaft vorstellen, mit welchem Elan der Junge sich um die 30 Hühner kümmert und auf dem Markt die Eier feilbietet. Er liebt seine Wellensittiche genauso wie die wertvollen Tauben; dem Papagei bringt er das Sprechen bei.

"Das war sehr schön. Ich hatte als Kind keine Probleme." Sagt es und sackt in sich zusammen. Das Gesicht verfärbt sich dunkelrot, Alireza atmet tief, viel zu schnell. Und kann die Tränen nicht mehr zurückhalten. Denn plötzlich sind sie wieder da, die Bilder der grausamen Seite Afghanistans.

Er sieht sie vor sich: die Toten, die Verletzten. Er hört die Schreie; die Explosionen, die Befehle der Taliban. Er erinnert sich an Angst. "Ich war ein guter Schüler, bin gerne in die Klasse gegangen. Aber es gab Anschläge. Die Taliban haben Lehrer und Hausmeister umgebracht. Die Schule wurde bombardiert, die gibt es nicht mehr." Nie wieder vergessen wird er den Motorradfahrer, der "direkt neben mir einem Jungen in den Kopf geschossen hat".

An dieser Stelle greift Pflegevater Matthias Schmitz in das Gespräch ein. „Alireza, du musst das nicht erzählen, das weißt du.“ Diese Einmischung ist nicht entmündigend gemeint, sondern entspringt reiner Fürsorge. Denn der inzwischen 20-Jährige gilt als traumatisiert, macht eine Therapie. Erste Fortschritte sind erkennbar, doch die Pflänzlein „Vertrauen, Hoffnung und Zuversicht“ sind noch zart. „Den Prozess sollten wir nicht gefährden“, sagt Schmitz. Und macht klar, dass Alireza von seinen Eltern nicht mal „eben so“ alleine auf die Reise geschickt wurde.

Es war ein Akt der Verzweiflung. Ein zweiter Sohn war als Opfer eines Selbstmordanschlags bereits ums Leben gekommen. Alireza selbst war 21 Tage in der Gewalt von Entführern, bis die Eltern es schafften, ihn freizukaufen. Sie sahen keinen anderen Ausweg für den Sohn, als das Heil in der Flucht zu suchen. Ein Abschied vielleicht für immer. "Ich konnte nicht weinen", sagt Alireza. "Ohne Eltern ist das Leben nichts!" Den Kontakt zu ihnen hat Alireza verloren. Er weiß, dass auch sie später geflohen sind, aber ob sie noch leben, weiß er nicht.

Alireza schaffte es nach Deutschland und strandete nach Monaten der gefährlichen Flucht mutterseelenallein in Frankfurt. Eine glückliche Fügung, dass sein Weg durch verschiedene Jungendhilfeeinrichtungen ihn irgendwann in die Region Trier führte.

Rosemarie Schmitz kann sich noch gut an den Tag im Dezember 2013 erinnern, als Ali zum ersten Mal bei ihr auf dem Sofa saß, schweigend, den Kopf gesenkt, die Mütze tief ins Gesicht gezogen. Was tun, was sagen? Sie reichte ihm etwas Obst …

Die älteste Tochter gab damals im multikulturellen Zentrum in Trier Deutschunterricht für Flüchtlinge. Sie kannte Ali, dessen Notlage, und hatte ihre Eltern gefragt, ob sie ihn für ein Wochenende beherbergen könnten. "Innerhalb von drei Stunden mussten wir uns entscheiden." Ali kam, Ali blieb und ist seit 2014 Pflegesohn der Eheleute Schmitz.

Vater Matthias arbeitet als Pastoralreferent im Dekanat Schweich-Welschbillig, Rosemarie Schmitz ist Fachärztin für Allgemeinmedizin. Beide sind beruflich stark eingespannt und hätten ihre knapp bemessene Freizeit gut zur Erholung gebrauchen können.

Doch kaum sind die Töchter – 29, 26 und 24 Jahre alt – aus dem Haus, übernehmen sie eine Pflegschaft. Warum? "Wir haben als Christen eine Entscheidung getroffen." Es ging um Leben oder Tod: "Ali war suizidgefährdet, hatte keinen Platz im Leben mehr, im übertragenen und im konkreten Sinn. Da sind wir als Familie das Risiko eingegangen, ohne die sichere Gewissheit, ob es gut ausgehen wird, im Vertrauen auf die Stärke unserer Familie und die Hilfe Gottes."

Das Ehepaar verhehlt nicht, dass es schwierige Zeiten mit Ali gab und gibt. Anfangs schlief er angekleidet, allzeit zur Flucht bereit. Es sei nicht leicht für ihn gewesen, Vertrauen zu fassen. "Weil wir lange Zeit nicht wussten, wie schlecht es ihm wegen seiner seelischen Verletzungen in den nächsten Stunden gehen würde", wurde das Leben unruhiger, unkalkulierbarer, es gab kurze Nächte, "Turbulenzen", nennen sie es. "Das war grenzwertig."

Für Ali sei es schwer vorstellbar gewesen, dass er wirklich dazugehörte. Belastet habe ihn, dass er aus seiner Sicht keinen Beitrag zum Leben der Familie leisten konnte. "Und hier in Deutschland gab es neue Arten von Demütigung. Anfeindungen. Und er hat Heimweh", weiß Matthias Schmitz. Die Vergangenheit holt ihn immer wieder ein. Seine Frau, die Ärztin, nimmt den jungen Mann dann in den Arm: "Ich sage ihm: 'Du bist hier in Sicherheit. Wir passen auf dich auf.'"

Doch stimmt das auch auf lange Sicht? Alireza ärgert sich, dass Menschen gleich nach ihrer Ankunft nach den Fluchtgründen befragt werden. "Man kann über die schlimmsten Dinge einfach nicht reden. Mir fällt das ja immer noch schwer."

Das Resultat: Sein Asylantrag wurde abgelehnt. Immerhin hat er eine Aufenthaltserlaubnis für ein Jahr. Wenn er nicht bleiben dürfte, wohin könnte er denn gehen? In die Heimat? Das Auswärtige Amt warnt vor dem "hohen Risiko, in Afghanistan Opfer einer Entführung oder eines Gewaltverbrechens zu werden". Im druckfrischen UN-Bericht heißt es: "2015 sind im Konflikt zwischen Regierung und Taliban 11.000 Zivilisten getötet oder verletzt worden – so viele wie noch nie seit Beginn der Aufzeichnungen 2009."

Würde Familie Schmitz einen derartigen Schritt nochmals gehen? "Vielleicht kann man so etwas nur einmal in seinem Leben tun, aber noch einmal entscheiden kann man sich erst, wenn es darauf ankommt", lautet die Antwort. Die Entscheidung für Ali jedenfalls haben die Eheleute nicht bereut – trotz aller Hürden, Probleme, Ängste.

Er habe ihren "Blick auf das Leben verändert und geweitet". Es sei ein sehr tiefer Blick "in die Verletzbarkeit menschlichen Lebens, die Erkenntnis, was ein Mensch ertragen kann, ohne zugrunde zu gehen. Die Erkenntnis, dass es ein Privileg ist, in Frieden zu leben und einen Platz in der Welt, ein Dach über dem Kopf zu haben, und ein Bett, in dem man ruhig schlafen kann. Und wie wichtig es für einen Menschen ist, verlorenes Vertrauen in die Menschen und das Leben zurückzugewinnen. Und wie schwierig und langwierig das sein kann. Aber es ist möglich."

Die Eheleute Schmitz und ihr Pflegesohn sprechen viel miteinander, auch über Religion. "Wir haben voneinander gelernt", erzählt der Pastoralreferent. Und seine Frau sagt mit dem Brustton der Überzeugung: "Ali ist mir wie ein eigener Sohn ans Herz gewachsen. Er gehört dazu. Wohin sein Weg auch führen mag, wir werden immer mit ihm verbunden bleiben."
 
In Trier bei "Mama" und "Papa" hat Alireza "sehr, sehr viel Hoffnung" geschöpft, er erlebt sie nun wirklich als "seine" Familie. In seinem Kopf sei wieder Platz für Pläne. Er will eine Lehrstelle finden, den Führerschein machen, in eine eigene Wohnung ziehen. Anderen Flüchtlingen rät Alireza, die deutsche Sprache zu lernen, sich nichts zuschulden kommen zu lassen – und "niemals aufzugeben".

Stand: 20.12.2017