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Wachsam bleiben

Menschen jüdischen Glaubens  finden wieder Heimat in  Deutschland – mit Einschränkungen

Von Stephanie Meyer-Steidl

Ende Februar warnte Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, vor dem Tragen der Kippa in Stadtvierteln mit hohem muslimischen Bevölkerungsanteil. Seiner Warnung vorausgegangen war eine Serie von Terroranschlägen mit antisemitischem Hintergrund: im Mai 2014 auf das Jüdische Museum in Brüssel, im Januar 2015 auf einen koscheren Supermarkt in Paris und wenige Wochen später auf eine Synagoge in Kopenhagen. Auch hierzulande hat es in den vergangenen Jahren immer wieder gewalttätige Übergriffe gegeben. In der Zeit von 2001 bis 2013 wurden fast 20.000 antisemitische Straftaten verzeichnet, 511 Menschen wurden dabei verletzt. Wie sicher fühlen sich Menschen jüdischen Glaubens aktuell in Deutschland? Eine Momentaufnahme.

"Man muss aufpassen, wo man sich bewegt, da hat Herr Schuster recht", bekräftigt Tom Ku?era. Der 44-Jährige amtiert seit 2006 als Rabbiner der Liberalen Jüdischen Gemeinde Beth Shalom ("Haus des Friedens") in München. 1995 hat sich die Gemeinde gegründet, mittlerweile gehören ihr mehr als 400 Mitglieder an. "Nach den Anschlägen in Brüssel, Paris und Kopenhagen sind alle verunsichert", sagt Ku?era. Auch die deutschen Behörden lassen noch mehr Vorsicht walten als bisher: Sicherheitsvorkehrungen wurden deutlich erhöht, etliche Veranstaltungen und Besuche von nicht-jüdischen Gruppen, die sich für das Gemeindeleben interessieren, mussten abgesagt werden. Was der Rabbiner ausdrücklich bedauert: "Wir wollen weiterhin offen bleiben und müssen jetzt nach neuen Wegen suchen, wie wir diese Offenheit mit den Sicherheitsanforderungen vereinbaren können." Aber schließlich müssten sich Angehörige einer Minderheit immer fragen, ob sie ihre Identität verbergen oder zeigen wollten.

Dennoch: Er persönlich schätzt die tatsächliche Gefahr in einer Stadt wie München als gering ein. Von tätlichen Übergriffen in der jüngsten Vergangenheit ist ihm nichts bekannt. Und auch das Tragen der Kippa scheint in der bayerischen Metropole unproblematisch zu sein. Ein Mitglied aus der Gemeinde des Rabbiners bewegt sich seit zwei Jahren mit der traditionellen jüdischen Kopfbedeckung im Rahmen eines Selbstversuches im öffentlichen Raum. Ganz bewusst sucht er dabei auch Viertel auf, in denen viele Migranten leben. Mit Schwierigkeiten oder gar Anfeindungen war er nie konfrontiert. Zum Glück. "Antisemitismus wird derzeit vor allem mit Menschen muslimischen Glaubens in Verbindung gebracht", bemerkt Tom Ku?era. "Aber der latente Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft, der sich aus rechtsextremem Gedankengut speist, ist nach wie vor nicht zu unterschätzen."

Das bestätigt auch Juliane Wetzel. Die Historikerin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin. "Über 90 Prozent der Straftaten mit antisemitischem Hintergrund werden immer noch von Rechtsextremen begangen", erläutert die Wissenschaftlerin. "Dass das Hauptaugenmerk derzeit hauptsächlich auf muslimischen Jugendlichen liegt, halte ich für hochproblematisch. Das ist nämlich eine willkommene Ablenkung für die Mehrheitsgesellschaft, sich nicht mit den eigenen antisemitischen Stereotypen auseinandersetzen zu müssen."

Zwar vermute man, dass judenfeindliches Gedankengut unter muslimischen Jugendlichen weiter verbreitet sei als unter nicht-muslimischen. Aber fundierte Studien mit verlässlichem Zahlenmaterial gebe es dazu so gut wie nicht. Der von der Bundesregierung eingesetzte unabhängige "Expertenkreis Antisemitismus", dem Juliane Wetzel angehört, stellte in seinem jüngsten Bericht fest: "Offen ist ... die Frage ..., ob und inwieweit der von extremistischen Islamisten auch in Deutschland propagierte islamistische Antisemitismus unter den hier lebenden Muslimen verbreitet ist. Angesichts fehlender empirischer Untersuchungen ist damit eine genauere Gefahrenabschätzung zurzeit nicht möglich und bleibt als wichtige Aufgabe künftiger Forschungen bestehen."

Mit Vorsicht zu genießen ist laut der Forscherin die in verschiedenen Medien verbreitete Meldung, dass antisemitisch motivierte Straf- und Gewalttaten in Deutschland im vergangenen Jahr deutlich angestiegen seien: "Für Frankreich und Großbritannien trifft der Befund sicher zu, für Deutschland nicht."

Konstant bleibt seit Jahrzehnten, dass zwischen 15 und 20 Prozent der deutschen Bevölkerung in Umfragen eine antisemitische Grundhaltung zeigen. Antisemitische Grundhaltung, das meint tief sitzende judenfeindliche Klischees wie beispielsweise die Bezichtigung, dass Juden zu viel Einfluss besäßen und durch ihr Verhalten selbst schuld gewesen seien an ihrer Verfolgung. "Es braucht dann nur wieder ein aktuelles Ereignis wie die Beschneidungsdebatte oder den Nahostkonflikt, damit diese Einstellungen offen zutage treten", erklärt Wetzel.

"Überall auf der Welt gibt es Menschen, die nicht so viel wissen und deshalb für solche Gedanken empfänglicher sind", meint Inbal R. Die 52-Jährige ist in Israel geboren und in einem Kibbuz aufgewachsen. 1983 kam sie nach Deutschland, der Liebe wegen. Mittlerweile wohnt sie in Berlin, unterrichtet dort Hebräisch. "Die Beziehungen zwischen Israel und Deutschland haben sich stark verbessert – für junge Israelis ist es cool, hier zu leben, besonders in Berlin." Gut aushalten lasse es sich hier, sagt die Tochter einer Holocaust-Überlebenden, weil sich dieses Land intensiv mit der Vergangenheit auseinandergesetzt habe. "Es ist seltsam: Aber die Geschichte verbindet uns."

An einige unangenehme Begegnungen in den ersten Jahren kann sich Inbal R. erinnern: weil sie Jüdin war, weil sie aus Israel kam. In letzter Zeit gab es keine derartigen Vorfälle mehr, ganz im Gegenteil: "Ich spüre eine große Bereitschaft und einen ausgeprägten Willen, gut miteinander auszukommen." Ob nun mit Menschen deutscher oder mit Menschen arabischer Herkunft. Trotz allem macht sich Inbal R. Sorgen, wenn ihre Töchter Halsketten mit dem Davidstern tragen und sich damit offen zu ihrer jüdischen Identität bekennen. Das Gefühl von Sicherheit ist relativ. "Ich erlebe das Wertesystem in Deutschland als liberal und weltoffen, und ich wünsche mir von Herzen, dass es so bleibt. Ich wünsche mir, dass die Gesellschaft wachsam bleibt."

Was sollte die Mehrheitsgesellschaft dafür tun, damit sich Menschen jüdischen Glaubens in Deutschland gut aufgehoben, damit sie sich sicher fühlen können? Für Juliane Wetzel vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung ist die Antwort klar: Es braucht Aufklärung, und es braucht Information – zeitgemäß und auf die Bedürfnisse der jeweiligen Generation abgestimmt. Alle gesellschaftlichen Kräfte, einschließlich der Kirchen, trügen Verantwortung dafür, antisemitischen Haltungen entgegenzuwirken. Und auch die Politik müsse sich immer wieder klar bekennen und positionieren.

Für Rabbiner Tom Ku?era gibt es zwei entscheidende Ansätze, die ein friedvolles Zusammenleben ermöglichen: Bildung und Kontakt. "Wenn die Menschen wissen, wer wir sind und was wir tun, wenn wir uns gegenseitig kennenlernen – dann wird das dabei helfen, weniger Vorurteile zu haben." Seit 20 Jahren existiert seine Gemeinde inzwischen in München, mit einem großen Fest wird dieses Jubiläum begangen: "Ich bin zuversichtlich, was unsere Zukunft hier betrifft. Und ich erwarte diese Zukunft mit Freude."

Stand: 20.12.2017