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Verantwortung füreinander: Zusammenleben unterschiedlicher Generationen

Von Regina Käsmayr

Es muss nicht das Pflegeheim sein. Viele Senioren planen frühzeitig vor und sichern sich stattdessen einen Platz in einem Wohnprojekt, das nicht selten sogar mehrere Generationen zusammenbringt. In Wetzlar haben Christen verschiedener Konfessionen ein solches Haus bezogen.

Helga Cossmann erinnert sich schmunzelnd an einen Tag vor zwei Jahren, kurz nachdem sie mit ihrem Partner Helmut Bartak in die Taunusstraße 5-7 in Wetzlar gezogen war. Sie hängte gerade Wäsche auf dem Balkon auf, als eine Frau aus der Nachbarschaft vorbeikam und sie kritisch beäugte. "Wohnen Sie hier alle zusammen?", fragte sie neugierig. "Ja", antwortete die 74-Jährige. "Aber jeder hat seine eigene Wohnung. Mit Tür. Und die kann auch verschlossen werden."

So ganz verstanden manche Wetzlarer das nicht. Aber mittlerweile hat das Konzept hinter dem Mehrgenerationen-Wohnhaus sich durch zahlreiche Zeitungsartikel und Nachbarschafts-Kaffeetrinken etabliert. In 19 Wohneinheiten zwischen 30 und 115 Quadratmetern leben hier Jung und Alt eng beisammen und doch jeder ganz privat für sich. Es gibt einen Fitness- und einen Saunaraum, eine Werkstatt, ein Gästeappartement und einen Gemeinschaftsraum. Was alle Parteien verbindet: die christliche Grundeinstellung zum Leben. Dabei ist die Konfession oder die Intensität, mit der jemand seinen Glauben lebt, nicht von Bedeutung. Nur wer gar nichts mit dem Thema anfangen kann, passt eher nicht in die Gemeinschaft. Wir übernehmen Verantwortung füreinander. Niemand setzt sich hier ins gemachte Nest", erklärt Volker Bednarz, erster Vorsitzender des Vereins "Weiter Raum e.V.", der hinter dem Projekt steckt. Jeder, der in der Taunusstraße 5-7 wohnt, ist Mitglied im Verein und bezahlt neben seiner Miete auch einen Vereinsbeitrag, über den zum Beispiel die Gemeinschaftsräume finanziert werden.

Die 31 Bewohner der Anlage sind zwischen ein und 75 Jahre alt, 25 Erwachsene und sechs Kinder. Alle sagen du zueinander. Die einen helfen den anderen bei Computerproblemen oder packen an, wenn körperliche Arbeit gefragt ist. Die anderen machen sich dafür als Babysitter unentbehrlich. "Die soziale Einstellung zum Miteinander war für mich der Hauptgrund, hierherzuziehen. Wir alle können uns aufeinander verlassen", sagt Helga Cossmann. Und Walter Kühn (63), der im anderen Gebäudetrakt wohnt, ergänzt: "Meine Frau und ich waren vor kurzem in Urlaub. Da haben die Nachbarn unsere Blumen gegossen und unsere Post versorgt. Das ist in einer Stadt sonst nicht selbstverständlich."

Damit die Bewohner möglichst lange in dem Haus bleiben können, sind sämtliche Räume barrierefrei. Außerdem gibt es einen Aufzug, mit dem auch die Parteien im ersten und zweiten Stock erreicht werden können. In manchen Wohnungen könnte ein Abschnitt abgetrennt werden, um im Alter eine Pflegekraft zu beherbergen. Denn: "Gegenseitige Pflege ist im Rahmen des Vereins nicht machbar. Nachbarschaft trägt, aber nur bis zu einem gewissen Grad", sagt Walter Kühn, der bis vor kurzem selbst in einem Seniorenheim gearbeitet hat. Wird ein alleinstehender Bewohner also pflegebedürftig, so kümmere sich der Verein darum, dass Hilfe ins Haus kommt. Im Extremfall allerdings steht ein Umzug ins Pflegeheim an.

Ob und in welcher Intensität ein Wohnprojekt auch Pflege anbietet, ist von Fall zu Fall verschieden. Andrej Schindler von der Stiftung trias, die solche Projekte unterstützt und fördert, nennt zum Beispiel "Wohn-Pflege-Gemeinschaften", die für Menschen mit Pflegebedarf eine Alternative zu vollstationären Einrichtungen darstellen. "Sie verbinden das gewohnte häusliche Leben, den Alltagsbezug und das Leben im angestammten Quartier mit einer Pflege und Betreuung rund um die Uhr", erklärt Schindler. "Meist gibt es keinen Betreiber oder Träger der Gemeinschaft. Die Bewohner oder ihre Angehörigen übernehmen die Verantwortung für das Zusammenleben. Sie verpflichten sich als Gruppe, einen gemeinsamen Pflege- und Betreuungsdienst zu beauftragen."

Die Stiftung trias ist gemeinnützig und fördert Menschen und Projekte, die ökologische Verhaltensweisen und das gesellschaftliche Zusammenleben kombinieren wollen. Dabei erwirbt sie ein Grundstück gemeinsam mit einer solchen Gruppe und gibt es im Erbbaurecht an diese weiter. Dadurch soll der Spekulation von Grund und Boden entgegengewirkt werden. Das von trias initiierte Wohnprojekte-Portal unterstützt die Projekte bei der Vernetzung. Dort findet man auch bundesweit bereits bestehende Häuser, die vielleicht noch Mitbewohner suchen.

Wichtig ist bei der Auswahl, dass man auch die örtlichen Gegebenheiten berücksichtigt. Zum Beispiel sollten öffentliche Verkehrsmittel, Supermärkte und Ärzte leicht zu erreichen sein. "Ein passendes Wohnprojekt zu finden ist nicht immer einfach, handelt es sich ja dabei um mehr als eine Wohnung, sondern auch um die Gemeinschaft, in der eine Frau, ein Mann den Lebensabend verbringen möchte", weiß Schindler. Die Chemie muss also stimmen. "Hat man die Möglichkeit Menschen mit ähnlichen Bedürfnissen und Zielen aus dem Freundeskreis zu mobilisieren und für die Idee zu begeistern, kann man selbstständig ein Projekt umsetzen. Auch eine Anzeige in der Gemeindezeitung kann Menschen mit ähnlichen Zielen zusammenbringen." Wichtig ist: Das, worauf ein bestimmtes Projekt in erster Linie achtet (z.B. christliche Werte, ökologisches Bewusstsein, Toleranz innerhalb der Generationen), sollte auch für seine Bewohner essentiell sein. Je ähnlicher sich die Menschen sind, die dort zusammenleben wollen, desto besser funktioniert es.

In Wetzlar zum Beispiel hat niemand ein Problem damit, dass in der gesamten Anlage "holländische Verhältnisse" herrschen, wie Walter Kühn die einsehbaren Küchenfenster augenzwinkernd nennt. Beim Kochen kann man so die Kinder auf dem Hof beobachten – aber vorbeigehende Mitbewohner sehen auch den Inhalt der Pfanne. "Wer das nicht will, zieht eben die Jalousie zu", so Kühn. Das gleiche Prinzip gilt dann, wenn einem der Lärm vom Hof oder aus dem Sandkasten zu groß wird. "Wenn ich Anschluss suche, setze ich mich vorne auf den Balkon, wenn ich Ruhe will, hinten", erklärt Helga Cossmann.

Ein wenig Toleranz gehört auch zum Zusammenleben: Ein störendes Kinderspielzeug oder einen überzähligen Blumentopf räumt man eben einfach weg oder läuft gelassen daran vorbei. Wegen solcher Kleinigkeiten gibt es meist keinen Ärger. Diskutiert wird eher über Fragen wie: "Soll der Trockenraum im Keller einem Raum der Stille weichen?" Dafür sind die zweimonatlich stattfindenden verpflichtenden Treffen aller Vereinsmitglieder zuständig. Am Ende entscheidet die einfache Mehrheit. Momentan ist das Mehrgenerationen-Wohnhaus in der Taunusstraße voll belegt. Sollte eines Tages eine Wohnung frei werden, so will der Verein erst mal nur junge Leute aufnehmen "Älter werden wir alle von selber", erklärt Volker Bednarz.

Das Wohnprojekte-Portal der Stiftung Trias findet sich im Internet unter  www.wohnprojekte-portal.de

 

 

Stand: 20.12.2017