Nichts schönreden
Die Einordnung in eine Pflegestufe ist schwierig für alle Beteiligten
Von Ute Stephanie Mansion
Vor Birgit Schmelz liegt ein dicker Stapel Papier. Alle Unterlagen betreffen die Einordnung ihrer Mutter Agnes Ehlert (Namen geändert) in eine Pflegestufe. "Da kommen bei mir alle negativen Erinnerungen wieder hoch", sagt Birgit Schmelz mit gerunzelter Stirn. Der Ärger begann, als Agnes Ehlert zu Hause stürzte und sich einen Lendenwirbel verletzte.
Schmerzen plagten die 80-Jährige, das Gehen fiel ihr schwer. Und auch die Mitarbeiterinnen des Pflegedienstes, die bisher zweimal am Tag gekommen waren, hatten mehr Mühe mit dem Waschen und Anziehen der alten Frau. "Sie schlugen uns Geschwistern vor, Pflegestufe I zu beantragen", erklärt Birgit Schmelz. Das taten die Kinder von Agnes Ehlert. Bald darauf kam eine Gutachterin des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK). Der MDK ist ein Beratungs- und Begutachtungsdienst für die gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherungen.
Die Gutachterin stellte Agnes Ehlert, ihrer Tochter und einer Pflegerin viele Fragen zum Gesundheitszustand der alten Dame. Dann traf das Schreiben der Krankenkasse ein: Pflegestufe I wurde genehmigt – aber nur für acht Wochen. "Meine Mutter war jedoch danach körperlich immer noch sehr eingeschränkt", berichtet Birgit Schmelz. Die Familie beantragte dauerhaft Pflegestufe I. Wieder kam eine Mitarbeiterin des MDK und zeigte sich "sehr gesprächsarm", wie Birgit Schmelz sich erinnert. Sie fragte Agnes Ehlert nach den Namen ihrer Kinder und ließ sie einen Arm hochheben, was sie trotz Schmerzen tapfer leistete. "Meine Mutter hat nicht begriffen, dass das eine Prüfung war, die sie nicht bestehen musste", meint Birgit Schmelz. Kurz darauf erhielten sie den Brief der Krankenkasse. Pflegestufe I als dauerhafte Lösung wurde abgelehnt. Um sie zu bekommen, muss die "Grundpflege" des Patienten (zum Beispiel Hilfe beim Waschen und Anziehen) mindestens 45 Minuten pro Tag dauern. Der Pflegedienst riet Birgit Schmelz, Widerspruch einzulegen.
Wie Agnes Ehlert wird auch anderen alten Menschen eine Pflegestufe verweigert oder sie werden in eine für sie nicht passende Pflegestufe eingeordnet. Laut einer Versichertenbefragung des MDK vom vergangenen Jahr zum Thema Pflegebegutachtung sind zwar 86 Prozent der 5500 Befragten zufrieden mit der Begutachtung und nur fünf Prozent sind es nicht. Doch das sind angesichts von rund 1,5 Millionen Begutachteten im Jahr immerhin etwa 75.000 Menschen.
Wie kann man sich vor einer falschen Einordnung schützen und gegebenenfalls dagegen vorgehen? Zunächst ist es wichtig zu wissen, wie die Einordnung in eine Pflegestufe vor sich geht. Als Erstes müssen die pflegebedürftige Person oder stellvertretend ihre Angehörigen einen Antrag auf Pflege bei ihrer Pflegekasse stellen. Die Pflegekassen sind den Krankenkassen zugeordnet. Ein Gutachter oder eine Gutachterin des MDK besucht dann den Patienten zu Hause. Er oder sie stellt Fragen zum Gesundheitszustand des Patienten und zu dessen Fähigkeiten, im Alltag klarzukommen, zum Beispiel sich zu waschen, Essen zu sich zu nehmen oder auf die Toilette zu gehen. Der Patient beantwortet die Fragen, sofern er oder sie noch selbstständig dazu in der Lage ist – denn schließlich gibt es auch viele Demenzkranke. Sie könnten theoretisch körperlich für sich selbst sorgen, vermögen es jedoch aufgrund ihrer Demenz nicht mehr. Die Einordnung in eine Pflegestufe berücksichtigt auch demenzielle Erkrankungen.
Gut vorbereiten ist wichtig
Auf den Besuch eines Gutachters sollte man sich gut vorbereiten. "Sehr wichtig ist, dass eine Vertrauensperson des Pflegebedürftigen dabei ist, also ein pflegender Angehöriger oder jemand von einem Pflegedienst", erklärt Christiane Grote, Leiterin der Gruppe Gesundheits- und Pflegemarkt der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen. Die Mitarbeiter eines Pflegedienstes oder die Kinder eines Pflegebedürftigen können häufig gut beurteilen, was dieser noch kann und was nicht. Wenn ein Angehöriger merkt, dass Vater oder Mutter sich als weniger hilfsbedürftig darstellt, als er oder sie es tatsächlich ist, oder einfach nur einen besonders guten Tag hat, dann könne er auch das Gespräch unter vier Augen mit dem Gutachter suchen, rät Christiane Grote.
Die Gutachter würden zwar keine umfassenden körperlichen Untersuchungen durchführen, aber sie sollten sich ein möglichst vollständiges Bild von der gesundheitlichen Situation des Pflegebedürftigen machen. Darum empfiehlt Grote, ein paar Dinge bereitzulegen: Berichte von Haus- und Fachärzten und über Krankenhausaufenthalte des letzten Jahres sowie die aktuellen Medikamente. "Wenn man einen Pflegedienst hat, sollte man auch die Pflegedokumentation bereitlegen", sagt die Expertin.
Die pflegenden Angehörigen sollten ein Pflegetagebuch führen – möglichst über einen längeren Zeitraum, mindestens aber eine Woche vor dem Besuch des MDK. "Die Angehörigen notieren darin, welche pflegerischen Verrichtungen Tag für Tag anfallen und wie viel Zeit sie in Anspruch nehmen", erklärt Grote. "Damit lässt sich gut belegen, wo Hilfe nötig ist."
Überschätzung und Scham
Das ist auch deshalb ratsam, weil viele ältere Menschen ihre körperlichen Fähigkeiten gegenüber dem MDK zu positiv schildern. Sie überschätzen sich oder empfinden Scham. "Ältere Menschen schämen sich häufig, sich als hilfsbedürftig darzustellen", erklärt Christiane Grote. "Das ist nachvollziehbar, denn wir alle erleben uns selbst gern als kompetent." Besonders schwierig sei es, mit einer außenstehenden Person über intime Dinge zu sprechen. "Die Gutachter fragen, ob jemand inkontinent ist oder nicht, ob er Windeln tragen muss – das sind unangenehme Fragen, und da sind die Antworten oft schambesetzt." Leider können übertrieben positive Angaben dazu führen, dass der Gutachter den Patienten in eine unpassende Pflegestufe einordnet.
In welche Pflegestufe eingeordnet wurde, erfahren die Patienten spätestens fünf Wochen, nachdem die Pflegekasse den Antrag auf Leistungen erhalten hat. Bei manchen Patienten und ihren Angehörigen ist die Überraschung groß, wenn die gewünschte Pflegestufe nicht bewilligt wurde. Nach dem ersten Schrecken ist nun rationales Handeln angesagt. Das bedeutet: Widerspruch einlegen bei der Pflegekasse. Dafür haben die Patienten einen Monat Zeit, nachdem sie den Bescheid erhalten haben. Dann kommt ein zweiter Gutachter des MDK ins Haus. Spätestens bei diesem Besuch sollte eine Vertrauensperson anwesend sein, medizinische Unterlagen und ein Pflegetagebuch sollten bereitliegen. Wenn auch der Widerspruch nicht zu der gewünschten Pflegestufe führt, bleibt eine Klage beim Sozialgericht.
Birgit Schmelz hat Widerspruch eingelegt gegen die Einordnung ihrer Mutter in Pflegestufe I. Minutiös hat sie dargelegt, wie viel Zeit sie bzw. der Pflegedienst tatsächlich benötigen, um Agnes Ehlert zu waschen, Hände und Füße zu pflegen oder beim Zu-Bett-Gehen zu helfen. Das waren etliche Minuten mehr, als die Gutachterin des MDK in ihrem Bericht angegeben hatte. "Den Bericht des MDK sollte man sich auf jeden Fall schicken lassen, um ihn zu prüfen", rät Birgit Schmelz. Automatisch geschehe das nicht.
Inzwischen lebt ihre Mutter in einem Pflegeheim in ihrer Nähe. Sie ist dement, war mehrmals im Krankenhaus und sitzt im Rollstuhl. Sie ist nun in Pflegestufe III. Ohne den Widerspruch des Pflegeheims wäre es nach dem Antrag nicht dazu gekommen.
Bürgertelefon zur Pflegeversicherung, Tel. 030 - 340 60 66-02 (Ortstarif).
Internet: www.bmg.bund.de/pflege.html
Beim BMG kann auch die Broschüre "Ratgeber zur Pflege – Alles, was Sie zur Pflege wissen müssen" heruntergeladen oder bestellt werden.
Verbraucherzentrale NRW
www.vz-nrw.de/Gesundheit-Pflege-1 (zahlreiche Informationen unter den Stichworten "Ambulante Pflege", "Stationäre Pflege" und "Pflegeversicherung").
Der kfd-Bundesverband hat die Broschüre "kfd – ein offenes Ohr für pflegende Angehörige. Ergebnisse des Modellprojekts Pflegebegleitung und Anregungen für die Weiterarbeit in der kfd". Zu beziehen unter 0211 - 44992-86, E-Mail: shop@kfd.de