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"... gib jedem seinen eignen Tod"

Die medizinische Disziplin Spiritual Care erforscht die spirituellen Bedürfnisse von schwerkranken und sterbenden Menschen

Von Stephanie Meyer-Steidl

20 Jahre war Franziska M. Intensiv-Krankenschwester. Unzählige Patienten hat sie in dieser Zeit gepflegt und versorgt, viele der schwer Kranken hat sie sterben sehen. Mal war es ein leichter Tod, schnell und wie selbstverständlich, mal ein dramatischer Kampf und kaum zu ertragen für  Angehörige und Pflegende. "Doch so groß die Unterschiede waren: Jeden meiner Patienten umgab in der Zeit der Krankheit und des Sterbens etwas Besonderes. Fast immer habe ich etwas Geheimnisvolles gespürt, das sich nur schwer in Worte fassen lässt."

Dieses nicht Fassbare, Geheimnisvolle, beschäftigt auch die Wissenschaft. Menschliches Leben, das sei "Körper plus X", definiert der Medizinhistoriker Paul Unschuld. Der Buchstabe X steht dabei symbolisch für die unbekannte Größe im Dasein, die sich einer eindeutigen Zuordnung entzieht. X steht für das Rätselhafte und für das Unergründliche, das auf etwas Anderes verweist; X kann verstanden werden als die spirituelle Dimension der menschlichen Existenz.

Um diese Dimension näher zu ergründen, um sie zu reflektieren und ihr im Leben und Sterben bewusst Raum zu geben, hat sich vor einigen Jahren eine neue medizinische Disziplin gegründet: Spiritual Care. Sie ist ein Teilgebiet der Palliative Care (siehe "Info") und bedeutet übersetzt so viel wie "Spirituelle Sorge". Spiritual Care hat es sich zur Aufgabe gemacht, während einer Krankheit den Betroffenen als ganzheitliches Wesen wahrzunehmen: seinen Körper, sein soziales Umfeld, seine Psyche und seine Spiritualität. Eine kleine Sensation, standen doch lange Zeit nahezu ausschließlich messbare Technik, auswertbare Methoden und Apparatemedizin im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses.

Zwei Besonderheiten zeichnen den Spiritual Care-Ansatz aus: Zum einen geht er von der grundsätzlichen Annahme aus, dass jeder Mensch ein spirituelles Wesen ist, ausgestattet mit dem "Sinn und Geschmack fürs Unendliche" (Friedrich Schleiermacher). Spiritualität wird in diesem Konzept sehr breit definiert und mehr als sinngebende Ressource verstanden denn als ausschließlich religiöser Begriff. Damit ist Spiritual Care deutlich offener angelegt als die traditionelle Krankenhaus-Seelsorge, was vor allem dem Umstand geschuldet ist, dass der Einfluss der Institution Kirche und ihrer Seelsorger im Schwinden begriffen ist. Stattdessen entwickeln immer mehr Menschen individuelle Formen religiös-spirituellen Lebens jenseits konfessioneller Grenzen.

Daraus ergibt sich ein weiteres Merkmal: In der konkreten Umsetzung vor Ort – in Krankenhäusern, Pflegeheimen, Hospizen – soll die Sorge um die spirituellen Bedürfnisse, Wünsche und Probleme der Patienten nicht mehr in der alleinigen Verantwortung von SeelsorgerInnen liegen. Sie ist vielmehr als Aufgabe für alle gedacht, die im Team mit einem Schwerkranken und Sterbenden zu tun haben: Pfleger und Krankenschwestern ebenso wie Ärzte, Ärztinnen, Physiotherapeuten, Ehrenamtliche. Sie alle sollen grundsätzlich offen sein für die spirituell-existentiellen Anliegen eines Patienten und mit ihm gemeinsam ergründen, welche persönlichen Ressourcen bei der Bewältigung seiner Krankheit hilfreich sein könnten. Das setzt voraus, dass den am Pflegeprozess Beteiligten selbst klar sein muss, welcher Leitfaden ihr Tun und Handeln bestimmt, welcher Sinn sie durchs Leben trägt.

Spiritual Care will jeden Menschen in seiner Individualität ernst nehmen und ihm in der letzten Lebens-Phase Raum zur persönlichen Entfaltung, zum Da-Sein ermöglichen. Rainer Maria Rilkes Gedichtzeile "O Herr, gib jedem seinen eignen Tod" ist Ausdruck für den Wunsch, der hinter diesem Bestreben steht.

Kraftquelle Spiritual Care

Fragen an Eckhard Frick, Professor für Spiritual Care an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität

Spiritual Care ist ein relativ neues akademisches Fach, in Deutschland existiert es erst seit fünf Jahren. Welche Auswirkungen auf die Praxis lassen sich bisher beobachten?
Eckhard Frick: Wir haben erkannt, wie wichtig es ist, nicht nur aus- und fortzubilden. Darüber hinaus müssen wir auch immer die gesamte Einrichtung – das Krankenhaus, das Pflegeheim, das Hospiz – im Blick behalten, wo Spiritual Care integriert werden soll. Wir müssen systemisch denken und darauf achten, in welchen Teams die Menschen tätig sind, die Spiritual Care einbringen wollen. Wie passt das Konzept? Wie hoch ist die Bereitschaft in diesem Team dafür – auch unter ökonomischen Aspekten? Außerdem müssen wir deutlich machen, dass Spiritual Care nicht nur ein Angebot für die Patienten ist, sondern vor allem auch eine Ressource darstellt für die MitarbeiterInnen; es ist eine Quelle, aus der sie Kraft schöpfen können. Wird Spiritual Care hingegen allein als zusätzliche Aufgabe verstanden, kann sie als Belastung empfunden werden und es entsteht eher Widerstand.

Will man Spiritual Care als Ressource für den einzelnen begreifen, erfordert dies ja zunächst eine persönliche Auseinandersetzung mit dem Thema. Ist es denn den meisten ohne weiteres möglich, über ihre eigene Spiritualität ins Gespräch zu kommen?
Nein, vielen Menschen fällt das schwer. Denn dieser Bereich hängt eng mit Intimität und Privatheit zusammen und braucht deshalb ein besonderes Maß an Behutsamkeit: Spiritualität ist in unserer heutigen Gesellschaft oft mit Scham verknüpft, sie ist tabuisiert. Daraus ergibt sich, dass wir erst einmal diese Schamgrenze überwinden und im zweiten Schritt eine gemeinsame Sprache finden müssen, um uns darüber austauschen zu können.

Wo wird Spiritual Care bereits konkret umgesetzt?
Die evangelische Kirche bietet beispielsweise mit "Diakonie Care" ihren MitarbeiterInnen Trainingsprogramme in Existentieller Kommunikation, Spiritualität und Selbstpflege an. Was daraus erwächst, sind konkrete Schritte, die in einzelnen Einrichtungen gegangen werden. Um auf diesem Weg weiter zu gehen, braucht es jedoch tiefgreifende Veränderungsprozesse und Organisationsentwicklung. Ein Weiterbildungs-Nachmittag reicht da nicht aus.

Die Hospizbewegung in Deutschland ist in den letzten Jahren stetig gewachsen, auch zahlreiche kfd-Mitglieder engagieren sich als Hospizbegleiterinnen. Welchen Platz kann Spiritual Care in diesem ehrenamtlichen Bereich einnehmen?
Es sollte darum gehen, den spirituellen Bereich nicht immer automatisch an die SeelsorgerInnen zu delegieren, sondern die Kompetenz der HospizbegleiterInnen dafür einzubeziehen. Das ist für alle Beteiligten eine große Chance, denn die Auseinandersetzung mit dem Thema geht auch immer mit einer persönlichen Weiterentwicklung einher.

Eckhard Frick sj ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin. Seit 2010 bekleidet er die europaweit erste Professur für Spiritual Care in München. Eckhard Frick gehört dem Jesuitenorden an.

Palliative Care / Spiritual Care
Das Wort "palliativ" leitet sich ab vom lateinischen palliare ("ummanteln, umhüllen"); das englische care bedeutet soviel wie "sich kümmern um, sich sorgen um". Da der Begriff nur unzureichend übersetzt werden kann, ist auch bei uns der englische Sprachgebrauch üblich. Palliative Care umfasst alle Maßnahmen, die sich der Versorgung schwerkranker und sterbender Menschen widmen. Nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation ist es ein "Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität von Patienten und deren Familien, die mit Problemen konfrontiert sind, die mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung einhergehen: durch Vorbeugen und Lindern von Leiden, durch frühzeitiges Erkennen, untadelige Einschätzung und Behandlung von Schmerzen sowie anderen belastenden Beschwerden körperlicher, psychosozialer und spiritueller Art." Das Konzept der Spiritual Care greift den Aspekt der spirituellen Bedürfnisse von Kranken und ihren Angehörigen auf und ist ein Teil von Palliative Care.

Literatur
Gian Domenico Borasio, Über das Sterben: Was wir wissen. Was wir tun können. Wie wir uns darauf einstellen, dtv, München.
Die von den beiden großen Kirchen veranstaltete "Woche für das Leben" hat in diesem Jahr die Überschrift "Sterben in Würde". Infomaterial findet sich auf der Internetseite www.woche-fuer-das-leben.de

Stand: 20.12.2017