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Freier von Zwängen 

Die Lehren der Kinder

Von Fulbert Steffensky

"Was bringt das für die Rente, was sagen die Leute", das waren wichtige Fragen, mit denen Mitglieder der älteren Generationen aufgewachsen sind. Jüngere sind da freier und vor allem ihrem eigenen Gewissen verpflichtet und ihrer eigenen Fähigkeit, ihr Glück zu schmieden. Das eröffnet auch Älteren ganz neue Perspektiven …

Im Buch der Sprichwörter (4, 1–2) lese ich eine Grundregel der alten Welten: "Ihr Söhne, hört auf die Mahnung des Vaters; merkt auf, damit ihr Einsicht lernt; denn gute Lehre gebe ich euch. Lasst nicht ab von meiner Weisung!" Warum sollte man in jenen Welten auf die Lehren der Väter und Mütter hören? Weil die Alten am längsten gelebt haben, am längsten das Wetter beobachtet, den Acker bebaut, die Tiere gepflegt, die Nahrung haltbar gemacht und die Kinder erzogen haben. Diese Welten hatten sich kaum verändert. Was gestern gegolten hat, galt auch heute und morgen. Wissen war Erfahrungswissen. Wer am längsten gelebt hatte, hatte das Wissen jener unveränderlichen Zeiten gespeichert. Gehorsam war die Grundtugend jener Zeit. Denn es war vernünftig, auf jene zu hören, die am längsten Wissen und Erfahrung gehortet hatten. Die "Väter und Mütter" hatten ein Wissen, dem die "Söhne und Töchter" wenig entgegenzusetzen hatten. Das Wissen der Alten war aus der Vergangenheit in die Gegenwart gerettet.

Gilt diese Form des Wissens noch? Ganz überholt wird es wohl nie sein, und die Kinder lernen immer noch von ihren Vätern und Müttern. Aber es ist eine neue Form des Wissens und der Lebensaneignung entstanden: das Wissen aus dem Experiment. Nicht mehr die Tradition mit ihren unveränderlichen Regeln lehrt uns zu leben, sondern das Experiment. Experten aber des Experimentes sind nicht wir Alten, sondern unsere Kinder und Enkel. Wissen war in der alten Gesellschaft immer altes und überliefertes Wissen. Wissen aus dem Experiment heißt nun neues, bisher nicht bekanntes Wissen.

Die Alten haben es nicht leicht mit dieser neuen Situation, weil ihre "natürliche" Autorität angetastet wird. Wir kennen es aus der Situation von Einwanderern: Besonders die Väter aus Ländern mit stark patriarchalen Traditionen tun sich schwer damit, dass ihre Kinder die Sprache im neuen Land schneller lernen als sie, und dass die Kinder ihre Sprachlehrer und -lehrerinnen werden, dass sogar die Enkel für sie vor der Steuerbehörde oder der Polizei dolmetschen müssen. Es verstört ihr Weltbild, sie fühlen sich entwertet, und dies ist bei vielen oft ein Moment starker psychischer Belastung. Sie spüren nicht selten, dass sich die Kinder der schlechten Sprache ihrer Eltern schämen.

Was also lerne ich von meinen Kindern, mehr noch von meinen Enkeln? Etwas, was allen Alten sofort einleuchtet: Wir alle lernen von unseren Nachkommen die neuen technischen Welten. Wenn mein Computer bockt, rufe ich meine Enkelin. Es ist nicht nur so, dass sie schneller den Fehler (meinen oder den des PCs) findet; sie versteht die Welt der technischen Geräte besser. Ich kann notfalls den Umgang lernen, die Bedienung, aber ich verstehe die Hintergründe und Gesetze jener fremden Welt nicht, oder doch viel weniger als sie. Es entsteht etwas, womit die Alten nicht ganz leicht fertig werden: Mitleid mit ihnen. Wer von uns Alten kennt nicht das mitleidige Lächeln der Enkel, wenn sie uns in neue Geräte einführen oder sie für uns wieder verfügbar machen? Je besser wir mit unseren Enkeln dran sind, umso mehr Humor haben wir mit unserem eigenen Unvermögen.

Es sind aber nicht nur die technischen Welten, die sich verändert haben und in denen die Kinder meine Meister und Meisterinnen sind. Ihre Lebenswelten sind andere, und ich versuche zu beschreiben, was sie mich lehren.

Unsere Kinder lehren uns, dass es nicht nur eine Heimat gibt. Meine Generation lebte in der Welt der Nesthocker. Wir blieben meistens in der Gegend, in der wir geboren waren, in dem Beruf, den wir einmal gewählt hatten, und in dem Glauben, in dem wir erzogen wurden. Heimat empfanden wir in der Treue zu unseren Herkünften und zu den einmal getroffenen Wahlen. "Bleibe im Land und nähre dich redlich!" war unsere Devise, Bleiben unsere Tugend. Unsere Kinder sind Nestflüchter. Sie lehren uns, dass man fliegen kann, nicht nur hocken.

Ich nenne ein Beispiel: Als ich 35 Jahre alt war, bin ich aus der katholische Kirche ausgetreten und in die evangelische eingetreten. Für mich war es kein existentieller Schritt, wohl aber für die alte Welt, in der ich lebte. Es war ein Skandal. Vor einiger Zeit ist die Tochter einer Freundin denselben Weg gegangen, und niemand mehr hat sich groß darüber aufgeregt. Für unsere Kinder – und spätestens für die Enkel – sind Wechsel, Zeitweiligkeit und Ausprobieren selbstverständlich geworden. Wechsel der Berufe, der Beziehungen und der Orte werden für sie leichter. Sie kennen kaum noch in der alten Dramatik das Heimweh, die alte Krankheit der Nesthocker. Ich weiß nicht, ob ich selbst ihre Flüge noch lernen kann. Aber ich kann zumindest lernen, dass es andere Lebensweisen gibt, als wir es gewohnt waren. Ich lerne, sie zu lassen – die Haupttugend, die wir Alten zu lernen haben. Gelegentlich aber rufe ich den Zugvögeln nach: Überall kann man nicht zuhause sein. Verfliegt euch nicht ins Nirgendwo!

Unsere Kinder lehren uns, mit den Unberechenbarkeiten des Lebens zu rechnen. Ich habe eine Enkeltochter, in Deutschland geboren, in Bolivien aufgewachsen, studiert sie in der Schweiz Theaterwissenschaft. Ich frage sie: Welchen Beruf strebst du damit an? Sie lächelt überlegen und hält dies für eine Frage aus alten Zeiten: Was studierst du, welchen Beruf ergreifst du, kannst du davon leben, wie hoch wird deine Rente sein?

Das alles weiß sie nicht. Sie weiß auch nicht, ob sie bei diesem Studium je Arbeit findet in einem Beruf. Diese Offenheit der beruflichen Zukunft kümmert sie wenig. Sie kann sich auch vorstellen, auf einer Schweizer Alb Käse zu machen, wenn sie sonst nichts findet. Gewiss, es ist ja nicht nur ihre Wahl, dass die jungen Menschen ihre berufliche Zukunft so wenig absehen können. Es ist ihr gesellschaftliches Schicksal. Aber was ich bewundere, ist, wie angstlos sie mit ihren größeren Lebensschicksalen umgehen.

Unsere Kinder lehren uns, gesellschaftlichen Zwängen gegenüber freier zu sein. Eine Hauptfrage meiner alten Welt war: "Was sagen die Leute?" Was sagen die Leute, wenn du nicht proper gekleidet bist, wenn du nicht den vorgeschriebenen Regeln der Sexualmoral folgst, wenn du nicht denkst, lebst, liebst  wie "man" denkt und lebt? In meiner alten Welt stand man immer vor dem Gericht der öffentlichen Meinung, die einem befahl, wer und wie man sein sollte.

Diese Öffentlichkeit war nicht nur draußen. Man hatte sie lange verinnerlicht, sie versuchte, unser Gewissen zu ersetzen. Wir lebten in einer Schamkultur. Man schämte sich nicht nur vor sich selbst, man schämte sich vor allem vor der Öffentlichkeit, die einen sah und aburteilte. Das ist bei meinen Kindern anders, und man kann ihnen mit dem Satz „Was sagen die Leute“ kaum noch kommen. Sie sind freier, vielleicht auch einsamer, weil sie kein anderes Forum mehr kennen als das eigene Gewissen.

Kann ich selbst, kann meine Generation diese Freiheit noch lernen? Ich weiß es nicht. Die kulturellen Prägungen, die man in Jugend und Kindheit erfahren hat, sitzen tief. Die Art meiner Kinder lehrt mich, sie zu durchschauen. Man ist damit den alten Prägungen nicht mehr völlig ausgeliefert, aber das heißt noch nicht, dass man von ihnen befreit ist.

Stand: 20.12.2017