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Brennen nach Leben

Nach dem Zweiten Weltkrieg suchten die aus den Lagern befreiten traumatisierten Kinder eine Zukunft

Von  Stephanie Meyer-Steidl

Vor 70 Jahren, am 27. Januar 1945, befreite die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Im April nahmen die Alliierten die Konzentrationslager Ravensbrück, Bergen-Belsen, Buchenwald, Dachau und Flossenbürg ein. Die Befreiung bedeutete für die Überlebenden den Beginn eines neuen Lebens. Doch zunächst standen sie vor dem Nichts, waren entwurzelt und zum großen Teil heimatlos.

"Displaced Persons" (DPs) nannten die Alliierten die Menschen, die die Hölle des Nazi-Terrors in Konzentrations- und Zwangsarbeiterlagern überstanden hatten. "Displaced Persons" war ein klar definierter, mit einem Status verbundener Verwaltungsbegriff für Frauen, Männer und Kinder, die durch das NS-Regime aus ihrer Heimat vertrieben oder verschleppt worden waren und die aus eigener Kraft nicht nach Hause zurückkehren konnten. Unter diesen Vertriebenen und Verschleppten befanden sich Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter aus Ungarn, Polen, der Tschechoslowakei oder der Sowjetunion sowie Jüdinnen und Juden unterschiedlicher Nationalitäten. Noch bis kurz vor Kriegsende in den Lagern gequält oder entkräftet durch die sogenannten Todesmärsche, waren die meisten von ihnen unterernährt, krank und schwer traumatisiert. Im Chaos der ersten Nachkriegsmonate sahen sich die Alliierten nun mit der Aufgabe konfrontiert, den Displaced Persons – insgesamt rund sieben Millionen Menschen – zu helfen und sie bei der Suche nach einem neuen Zuhause zu unterstützen. Vorrangiges Ziel war es dabei, ausländischen DPs die rasche Rückkehr in die alte Heimat zu ermöglichen. Über fünf Millionen Menschen wurden so bis Herbst 1945 in ihre Herkunftsländer zurückgebracht – vor allem nach Osteuropa.

Parallel dazu entwickelte sich ein weiteres Unterstützungssystem: die DP-Lager. Mehrere hundert dieser Lager gab es allein in Deutschland, weitere in Österreich und Italien. In ihnen wurden die Überlebenden einquartiert, die zu schwach und zu krank für den Transport waren oder für die so schnell keine neue Heimat gefunden werden konnte. Das betraf insbesondere die etwa 50.000 bis 70.000 jüdischen Überlebenden. Sie hatten nicht selten ihre gesamte Familie verloren und damit keinen Anknüpfungspunkt mehr an ihre bisherige Existenz.

Um die Unterbringung dieser DPs organisatorisch zu bewältigen, nutzten die Alliierten bestehende Strukturen: beispielsweise Kasernen, Schulen und ehemalige Konzentrationslager. Aber auch Hotels, Krankenhäuser und Klöster schienen als Zufluchtsstätten geeignet.

Eines dieser Klöster war das Kloster Indersdorf, circa 35 Kilometer nordwestlich von München und unweit des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau gelegen. Der Orden der Barmherzigen Schwestern des Heiligen Vinzenz von Paul hatte in Indersdorf bis kurz vor Kriegsausbruch ein Waisenhaus betrieben. Im Juli 1945 richteten die Amerikaner dort das erste internationale Kinderzentrum der US-Zone ein. Schon bald waren knapp 200 Jungen und Mädchen aus 13 verschiedenen Nationen zu versorgen, die meisten zwischen fünf und 16 Jahren alt. Jungen und Mädchen, Juden wie Nicht-Juden, die dort nach den Gräueln der KZ und der Zwangsarbeiterlager Zuflucht und Geborgenheit finden sollten. Eine enorme Herausforderung für die MitarbeiterInnen der Hilfsorganisation, die für das Zentrum zuständig war.

"Verlorene Kinder" nennt Greta Fischer in ihren Aufzeichnungen ihre Schützlinge in Indersdorf. Fischer war als Sozialarbeiterin und Pädagogin für die Hilfsorganisation der Vereinten Nationen, der United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA), tätig und sollte sich im Auftrag der Militärverwaltung um die jungen DPs in Indersdorf kümmern.

Ihr Bericht über diese Zeit hat sich erhalten, und er gibt tiefe Einblicke in den Alltag der jungen Überlebenden. Einblicke in einen Alltag, in dem es zunächst einmal um die Versorgung mit dem Notwendigsten ging: Kleidung, Nahrung, Medikamente und warmes Wasser. Während der ersten Monate nach dem Krieg, in denen es an allem mangelte, waren allein das bereits schwierige Aufgaben – für die das Team aber immer wieder kreative Lösungen fand: Als zum Beispiel dringend Stoff für neue Kinderkleidung gebraucht wurde, fuhr man ins nahe gelegene ehemalige KZ Dachau und bediente sich dort an Stoffrollen, die einst für Nazi-Flaggen bestimmt gewesen waren.

Weitaus komplizierter gestaltete sich die Betreuung der jungen Menschen auf der seelischen Ebene: Früh hatten sie Hunger und Schmerzen, Kälte und Todesangst erlitten und mussten mit der Ahnung oder Gewissheit leben, dass sie als einzige ihrer Familie übrig geblieben waren. So wie ein 13-jähriger ungarischer Jude, der die Ermordung seines Vaters im KZ Buchenwald miterlebt hatte und auf dem Todesmarsch nach Flossenbürg von den Amerikanern befreit worden war. Oder wie eine 15-jährige Polin, die nach der Ermordung ihrer Eltern in einer Munitionsfabrik zwangsarbeiten musste.

Um ein gewisses Maß an seelischer Entlastung zu erreichen, legten Greta Fischer und ihre Kolleginnen und Kollegen größten Wert auf die therapeutische Begleitung der Mädchen und Jungen. Sie hörten zu, wenn die Jugendlichen über ihre Erlebnisse erzählten, zeigten Mitgefühl. Oder sie unterstützten es, wenn sie Theater spielen wollten und dabei auch Szenen aus dem KZ auf die Bühne brachten: „Das war eine Art Gruppentherapie. Auf diese Weise kamen ganz viele Dinge heraus ... Wir taten alles, um die Herzen der Kinder zu entlasten“, schreibt die Pädagogin Fischer.

Entlastend waren auch die religiösen Feste, die im Kinderzentrum kräftig gefeiert wurden – ob nun Weihnachten oder Jom Kippur. Dass sich die Jugendlichen anschließend beim Aufräumen und Putzen beteiligten mussten, gehörte ebenfalls zu den rehabilitativen Maßnahmen des UNRRA-Teams.
Ziel war es immer, einen möglichst normalen Alltag einzuüben, damit sich die Kinder in Zukunft gesellschaftlich integrieren konnten. Und so entwickelten sich neben einigen Stunden Schulunterricht am Tag im Laufe der Monate zahlreiche Freizeit-Aktivitäten: Handarbeiten und Boxen, Fußballspielen und Musizieren. In dieser Entwicklung ähnelte das Kinderzentrum Indersdorf vielen anderen DP-Lagern: Fast überall etablierte sich mit der Zeit ein reges kulturelles und politisches Leben – inklusive eigenen Orchestern, Verwaltungsstrukturen und "Lagerzeitungen".

Allen Traumatisierungen zum Trotz, zeichnete zahlreiche Kinder und Jugendliche in Indersdorf ein unbedingter Wille zum Überleben aus, ohne den sie die Zeit in den KZ und Zwangsarbeiterlagern gar nicht hätten überstehen können. Als "ungewöhnlich starke Menschen" charakterisierte sie Greta Fischer, mit einem „Brennen nach Leben“.

Nach drei Jahren wurde das internationale Kinderzentrum Indersdorf 1948 endgültig aufgelöst. Immer mehr der Kinder und Jugendlichen hatten mittlerweile die Ausreise ins Ausland bewilligt bekommen: nach Großbritannien, in die USA, Kanada oder nach Palästina. Für die jüngeren unter ihnen waren meist Pflegefamilien oder Adoptiveltern gefunden worden, viele der älteren wollten auf eigenen Beinen stehen. Aber fast alle einte der Wunsch, das Land der Täter hinter sich zu lassen.

Stand: 20.12.2017