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"Manchmal ist es zu viel für mich"

Immer mehr Menschen im fortgeschrittenen Alter kümmern sich um hochbetagte Eltern

Von Stephanie Meyer-Steidl

Die Worte sprudeln nur so, wenn Maria Heimbach* (?*Namen von der Redaktion geändert?)
von ihrer Mutter, ihrem Ehemann und von sich selbst erzählt. Die schlanke Frau mit der Goldrandbrille und den schulterlangen gelockten Haaren ist 63 Jahre alt. Ihre Mutter ist 90, und bis vor zwei Jahren war alles gut: Maria Heimbachs Schwester kümmerte sich um die alte Dame, die im polnischen Krakau lebt. Die damals 88-Jährige war noch recht fit, körperliche Beschwerden hielten sich in Grenzen.

Doch dann stürzte die hochbetagte Frau, hatte mehrere kleine Schlaganfälle, baute geistig ab. Als auch noch Maria Heimbachs Schwester Krakau verließ, um auszuwandern, spitzte sich die Lage zu. Die naheliegende Lösung, in ein Pflegeheim umzuziehen, lehnte die Mutter kategorisch ab. Außerdem wäre es auch zu teuer gewesen.

Glücklicherweise fand sich eine entfernte Verwandte, die seitdem täglich nach der Mutter schaut. Maria Heimbach pendelt nun zwischen ihrer Wahlheimat München, wo sie seit 25 Jahren lebt, und Krakau hin und her. Die insgesamt knapp 2000 Kilometer legt die gebürtige Polin im Schnitt fünf Mal pro Jahr zurück, um dann für jeweils zwei Wochen bei der Mutter sein zu können. Mit ihrer Teilzeit-Beschäftigung im Öffentlichen Dienst kann sie die regelmäßigen Fahrten vereinbaren. Jedoch: "Die große Entfernung ist ein Riesenproblem. Ich habe ständig Angst, dass etwas passiert. Wenn wir näher beieinander wohnen würden, könnte ich mal schnell vorbeifahren, um nach dem Rechten zu sehen. In der jetzigen Situation ist das unmöglich."

Zuhause, in München, sorgt sich die 63-Jährige um ihre Mutter. Und wenn sie in Krakau ist, macht sie sich Gedanken um ihren Mann. Denn der 79-Jährige ist chronisch krank und immer wieder auf die Unterstützung seiner Frau angewiesen. "Ich sitze zwischen allen Stühlen. In den letzten beiden Jahren ist die Situation sehr belastend geworden." Wie sie es schafft, dennoch mit dieser Belastung umzugehen? "Indem ich versuche zu verdrängen und die Ängste beiseite zu schieben. Aber manchmal ist das alles zu viel für mich."

Es nicht zu viel werden zu lassen und eine Balance herzustellen zwischen den eigenen Bedürfnissen und denen der Eltern, sei eine der größten Herausforderungen überhaupt, sagt Bettina Ugolini. Die promovierte Psychologin ist Leiterin der Beratungsstelle "Leben im Alter" am Zentrum für Gerontologie der Universität Zürich. Einer ihrer Themenschwerpunkte ist die späte Eltern-Kind-Beziehung. "Aufgrund des demografischen Wandels wird es in Zukunft immer mehr älter gewordene Menschen geben, die sich um ihre betagten Eltern oder Verwandten kümmern", prognostiziert sie. Zum ersten Mal in der Geschichte lässt sich gehäuft beobachten, dass die Gruppe jenseits der 80 von den alt gewordenen Kindern oder anderen Angehörigen versorgt wird. Ein neues gesellschaftliches Phänomen. Und die durchschnittliche Lebenserwartung nimmt von Jahr zu Jahr noch immer weiter zu: So hat sich beispielsweise der Anteil der über 80-Jährigen an der Gesamtbevölkerung im Jahr 2010 gegenüber 1950 auf fünf Prozent verfünffacht.

Doch da Töchter und Söhne im fortgeschrittenen Alter häufig selbst bereits von Krankheiten und Beschwerden betroffen sind, kann die Versorgung der Eltern für sie zum gravierenden Problem werden. Das bestätigt auch die 52-jährige Ugolini: "Gesellschaftlich sind wir darauf noch nicht genügend vorbereitet. In Zukunft werden sich zwei Fragen immer drängender stellen: Wer ist eigentlich alles hilfsbedürftig? Und wer wird sich um die steigende Zahl von pflegebedürftigen Menschen kümmern?"

"Es ist wie ein Damoklesschwert, was über mir hängt"

Eine Frage, die auch Bärbel Jakobs* zunehmend beschäftigt. Die 58-Jährige – schmal, sportlicher Kurzhaarschnitt, offener Blick – lebt rund 60 Kilometer entfernt von ihren Eltern. Diese wohnen noch im eigenen Haus mit großem Garten. Bis vor kurzem verlief der Alltag reibungslos. "Doch zunehmend muss mein 91-jähriger Vater die 87-jährige Mutter versorgen – sie leidet an beginnender Demenz", erzählt Bärbel Jakobs. "Mein Vater erledigt die ganze Hausarbeit, kauft ein, kocht, wäscht, putzt, kümmert sich um seine Frau, fährt sogar noch Auto. Manchmal tut er mir richtig leid. Aber er sagt selbst, dass sie zurechtkämen. Hilfe von außen lehnt er ab." Es sei jedoch absehbar, dass die Situation irgendwann einmal schwieriger werden wird. "Alle möglichen Szenarien gehen mir da durch den Kopf. Das ist wie ein Damoklesschwert, das über mir hängt." Denn wenn der Ernstfall einträte, müsste sie selbst die Dinge in die Hand nehmen.

Ihre Schwester wohnt mehr als 300 Kilometer weit weg, hat ihr eigenes, prall gefülltes Leben. Und die Eltern zu sich zu holen, sie gar selbst zu pflegen, kann sich Bärbel Jakobs, die als Medizinisch-Technische-Assistentin in einem Krankenhaus arbeitet, nicht vorstellen. "Meine Eltern würden das nicht erwarten und wollen auch gar nicht fort aus ihrem Heimatort. Ich hätte außerdem nicht die Geduld, mit einem dementen Menschen angemessen umzugehen."

Die Eltern bleiben immer die Eltern, das Kind immer das Kind

Psychologin Ugolini betont, wie wichtig es ist, die eigenen Grenzen achtsam wahrzunehmen, klar und aufmerksam zu sein gegenüber den Veränderungen, die vor sich gehen, wenn die betagten Eltern mehr und mehr der Fürsorge durch die erwachsenen Kinder bedürfen. "Der über Jahrzehnte gelebten Beziehung muss Rechnung getragen werden", erläutert Ugolini. "Was in dieser Phase geschehen soll, muss zu dem passen, was vorher war. Eltern wie Kinder müssen die Frage klären: Wie nah können wir uns sein? Was ist stimmig mit unserer Beziehungsgeschichte?" Ganz entscheidend sei dabei, die Rollen nicht zu vertauschen: Die Eltern bleiben immer die Eltern, das Kind immer das Kind. Selbst wenn die Mutter 100 und die Tochter 80 ist.

"Die Veränderung geschieht im Prozess des Gebens und Nehmens – aber immer auf Augenhöhe", bekräftigt die Expertin. Während sich die Eltern-Kind-Beziehung im Kindesalter durch Verbundenheit und in der Jugend durch Abgrenzung auszeichne, spricht Ugolini für das (vorgerückte) Erwachsenenalter von der "ausbalancierten Verbundenheit". Sie ist unter anderem gekennzeichnet durch die freiwillige Zuwendung zu den Eltern, durch Verständnis, Einfühlungsvermögen, emotionale Selbstständigkeit und die Fähigkeit, unangemessene Schuldgefühle kontrollieren zu können. Die Eltern ihrerseits sind angehalten, sich in Akzeptanz zu üben: Akzeptanz gegenüber der eigenen Situation, gegenüber der Verantwortung der Kinder und dem nun anders gelagerten Verhältnis.

Aber verlangen diese Empfehlungen den meisten Betroffenen nicht eine gewaltige Anstrengung ab? Bettina Ugolini bejaht: "Gehen Sie nicht davon aus, dass es einfach so funktioniert. Investieren Sie in die Beziehung!" Durch ihre langjährige Beratungspraxis habe sie die Erfahrung gemacht, dass dieses Thema den Menschen auf der Seele brennt und dass viele bereit sind zu reflektieren, sich auseinanderzusetzen, sich zu entwickeln: "Ich kann nur dazu ermutigen, es lohnt sich. Denn schließlich geht es um den friedvollen Abschluss einer Lebensbeziehung – bevor der Tod uns trennt."

Stand: 20.12.2017