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Kommt nicht in die Tüte!

Ein Bonner Laden verkauft Lebensmittel verpackungsfrei

Von Jutta Oster

Hilke Deinet hat einen Lebensmittelladen der anderen Art eröffnet: In ihrem Geschäft verkauft sie die meisten Lebensmittel in loser Form. Das ist ihr Beitrag, Verpackungsmüll zu vermeiden – von den Erzeugern bis in die Küchen ihrer Kundinnen und Kunden.

Der erste Eindruck: Der Tante-Emma-Laden ist zurück. Tomaten, Gurken und Kartoffeln lagern in Kisten auf Holzregalen. Die Gummibärchen kann man sich mit einer Zange aus großen Gläsern abfüllen, ebenso die Datteln oder die getrockneten Pflaumen. An der Wand hängen durchsichtige Spender, bis obenhin gefüllt mit Nudeln, Reis, Bohnen und Müsli. Wasch- und Putzmittel kann sich jeder selbst aus großen Behältern zapfen. Das Stück blau-weiß gestreifte Wäscheseife liegt, wie ein Relikt aus alter Zeit, offen in einer Schale. Was man hier vergeblich sucht: bedruckten Karton, Plastik- oder Aluverpackungen. Der Laden "Freikost Deinet" im Bonner Stadtteil Duisdorf ist aber mehr als ein nostalgischer Tante-Emma- oder ein reiner Bio-Laden. Dahinter steckt ein durchdachtes Konzept: Die Besitzerin und Gründerin Hilke Deinet (33) will in ihrem Lebensmittelgeschäft weitgehend auf Einwegverpackungen verzichten und damit dazu beitragen, das Müllaufkommen zu verringern. Die Ware soll wieder für sich selbst sprechen, findet sie. Der Geschmack, der Geruch, das Aussehen der Lebensmittel sollen die Kundinnen und Kunden überzeugen – und nicht die Versprechungen der Marketingstrategen.

Rund eineinhalb Jahre hat sie zusammen mit ihrem Mann Tim Deinet das Konzept für "Freikost" geplant und den 90 Quadratmeter großen Laden selbst renoviert, bevor sie ihr Geschäft Ende Mai dieses Jahres eröffnen konnten. Ein wichtiger Teil der Arbeit bestand darin, ein Netz aus Erzeugern zu schaffen, die in der Nähe arbeiten, ihre Ware in Bio-Qualität produzieren und verpackungsfrei liefern können – meistens in großen Getreidesäcken. Hilke Deinet kennt ihre Lieferanten, oft kleine Höfe, persönlich. Ihren Job als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bonn hat die Geografin dafür aufgegeben.

Sie hat sich zwar intensiv mit der Forschung zum Klimawandel beschäftigt, aber festgestellt, dass sie "lieber etwas machen" möchte.

Müll vermeiden statt recyceln

"Freikost Deinet" ist der erste verpackungsfreie Laden in Nordrhein-Westfalen und der zweite in Deutschland. Im Zentrum von Kiel gibt es seit Jahresanfang bereits ein Geschäft mit einem ähnlichen Konzept: "unverpackt" heißt der Laden von Marie Delaperrière – auch hier ist der Name wörtlich gemeint. In Berlin-Kreuzberg sollte Mitte September 2014  der Supermarkt "original unverpackt" eröffnen (Stand bei Redaktionsschluss).

"Prerecycling" nennen Umweltschützer das Konzept der Läden: Müll soll gar nicht erst produziert statt recycelt werden. Denn das Problem ist drängend. Jährlich werden weltweit mehr als 288 Millionen Tonnen Plastik produziert, von denen später ein großer Teil verbrannt oder auf Deponien entsorgt wird. Ein Teil gelangt aber auch in die Meere und stört das Ökosystem empfindlich. Der World Wide Fund for Nature (WWF) warnt: "Unsere Ozeane versinken im Plastikmüll." Zwischen 100 und 150 Millionen Tonnen Müll sollen derzeit in den Weltmeeren treiben, die eine Gefahr für die Meerestiere, über die Nahrungskette aber auch für den Menschen darstellen. Bis das Material verrottet, können bis zu 500 Jahre vergehen. In Deutschland verbraucht jeder Bundesbürger im Schnitt 117 Kilogramm Kunststoff pro Jahr, wie das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft angibt. Ein Drittel davon entfällt auf Verpackungsmaterial wie Folien, Becher und Tüten.

Wer in den verpackungsfreien Läden einkauft, kann auf die Kunststoffe weitgehend verzichten. Mit einer Ausnahme: Das Fleisch ist bei "Freikost" in Plastik eingeschweißt und kommt von einem Metzger – wegen der strengen Hygienevorschriften bei frischer Ware. Ansonsten gibt es fast alles in loser Form: Jede Kundin, jeder Kunde bringt sich eine Dose oder ein anderes Gefäß mit, wiegt es zunächst und befüllt es dann am Spender mit der gewünschten Menge Nudeln oder Reis, Kaffee oder Tee, Gewürzen, Nüssen und anderen Knabbereien. Öle zapft man sich aus großen Gefäßen in Flaschen ab. Milch und Joghurt gibt es im Pfandsystem, Gemüse und Obst lagern ohnehin offen im Regal. Alternativ können die Kunden auch Dosen und Weckgläser bei "Freikost" kaufen und immer wieder benutzen, diese müssen dann nicht gewogen werden. Wer spontan vorbeikommt und kein Gefäß dabei hat, kann die Ware in Papiertüten einpacken. Diese kosten 15 Cent, Geld, das gesammelt und später an ein Projekt gespendet werden soll.

Idee in Australien kennengelernt

"Freikost" versteht sich als Lebensmittelgeschäft, aber nicht als Supermarkt. "Wir wollen nicht jedes Produkt in zehnfacher Ausführung anbieten", sagt Hilke Deinet. Die Preise sind höher als im Supermarkt, aber mit einem Bio-Laden vergleichbar. Wann der Laden sich trägt? Wie viel die Gründerin investiert hat? Hilke Deinet schüttelt den Kopf, darüber möchte sie nicht sprechen. Nur so viel verrät sie: "Meinen Stundenlohn darf ich mir im Moment nicht ausrechnen."

Die Resonanz ist bislang positiv. Eine Kundin aus Bonn-Mehlem, die durch das Radio von "Freikost" erfahren hatte, kommt an diesem Tag zum ersten Mal in den Laden. Sie habe sich bislang immer geärgert, dass sie bei ihren Einkäufen in Bio-Läden genauso viel Müll produzierte wie in konventionellen Supermärkten. Aktuell denkt sie darüber nach, die gelbe Wertstofftonne ganz abzuschaffen, wenn es ihr gelingt, auf den Verpackungsmüll zu verzichten. Das ist in Deutschland schwer, das weiß auch Hilke Deinet. Sie selbst hat die Idee des verpackungsfreien Einkaufs vor sechs Jahren bei einem Auslandssemester in Australien kennengelernt. Seitdem bekam sie den Gedanken nicht mehr aus ihrem Kopf. Nach ihrer Rückkehr hat sie versucht, in Deutschland weitgehend verpackungsfrei einzukaufen – und ist daran gescheitert. Das wollte sie nicht akzeptieren. So war die Idee für ihren Laden entstanden, zu dem auch ein kleines Café mit einem Mittagstisch gehört.

Mehrweg- statt Einweg-Tüten

Viele weitere Initiativen haben sich die Vermeidung von Plastikmüll zum Ziel gesetzt. Die Deutsche Umwelthilfe etwa hat das Programm "Einwegplastik kommt nicht in die Tüte!" gestartet und setzt sich statt der Einweg-Tüten für Mehrweg-Modelle im Handel ein. Dass man auch als Einzelner etwas bewegen kann, hat der 18-jährige Fabian Lehner aus dem bayerischen Simbach am Inn bewiesen. Er wehrt sich dagegen, dass wöchentlich die Werbeprospekte "Einkauf aktuell" der Deutschen Post bei 20 Millionen Haushalten ungefragt im Briefkasten landen – allesamt in Folie verpackt. Auf der Plattform change.org startete er eine Online-Petition dagegen, und 70.000 Unterzeichner gaben ihm Recht.

Auch die kfd setzt sich mit dem Thema Kunststoff und den davon ausgehenden Gefahren kritisch auseinander. "Das kommt mir nicht in die Tüte", so war die Jahrestagung des Ständigen Ausschusses "Hauswirtschaft und Verbraucherthemen" im Frühjahr überschrieben. Auch dort ging es laut Ausschuss-Sprecherin Anni Rennock um die Macht der Verbraucherinnen und Verbraucher. "Kommt nicht in die Tüte": Dieser Satz ist der erste Schritt, diese Verantwortung wahrzunehmen.

Stand: 04.01.2018