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Der erste Tote

Mit einem fingierten Überfall begann vor 75 Jahren der Zweite Weltkrieg

Von Stephanie Meyer-Steidl

Wie durch ein Wunder hat er den Krieg überstanden und ragt noch immer weithin sichtbar in den Himmel: der Rundfunksender der südpolnischen Stadt Gliwice (Gleiwitz). Mit 111 Metern hält er den Rekord der höchsten Holzkonstruktion der Welt. Und er ist ein Ort der Erinnerung an die Ereignisse, die dort vor 75 Jahren stattfanden – in der Nacht, bevor der Zweite Weltkrieg begann. Während eines inszenierten Überfalls auf den Radiosender Gleiwitz verlor der Oberschlesier Franciszek Honiok sein Leben. Er ist das erste Opfer des Zweiten Weltkriegs.

"Großmutter gestorben" – das Losungswort erreicht Alfred Naujocks in seinem Hotel "Haus Oberschlesien" am Nachmittag des 31. August. Seit Tagen hat er darauf gewartet. Es ist der Einsatzbefehl für eine Aktion mit dem Decknamen "Unternehmen Tannenberg". Zusammen mit einigen anderen Männern soll SS-Sturmbannführer Naujocks den deutschen Rundfunksender Gleiwitz nahe der polnischen Grenze überfallen. Als Deutsche dürfen sie sich dabei jedoch nicht zu erkennen geben: Es soll der Anschein erweckt werden, als ob polnische Rebellen hinter der Tat stünden. Ein perfider Plan, denn der Überfall von vermeintlich gegnerischer Seite wird der Führung Nazi-Deutschlands als propagandistischer Vorwand dienen, um in Polen einmarschieren zu können. Bereits am 22. August 1939 hatte Adolf Hitler in einer Ansprache vor Oberbefehlshabern angekündigt: "Die Auslösung des Konfliktes wird durch eine geeignete Propaganda erfolgen. Die Glaubwürdigkeit ist dabei gleichgültig, im Sieg liegt das Recht."

Nach Eintreffen des Losungswortes verlässt die Gruppe um Alfred Naujocks in den Abendstunden des 31. August ihr Hotel. Gegen 20 Uhr erreichen sie den Radio-Sender. Der Sicherheitsdienst, der das Gebäude bewacht, ist in die Aktion eingeweiht. Ungehindert können die mit Maschinenpistolen bewaffneten Männer eindringen. Im Betriebsraum angekommen, unterbrechen sie mithilfe eines Gewittermikrofons das laufende Programm: "Achtung! Hier ist Gleiwitz! Der Sender befindet sich in polnischer Hand!" Nach einer mehrminütigen Erklärung, die teils auf deutsch, teils auf polnisch verlesen wird, ruft der Sprecher zum Schluss: "Hoch lebe Polen!" Der Spuk ist vorüber. Doch während im Inneren des Senders die gefälschte Erklärung verlesen wird, spielt sich draußen vor der Tür eine Tragödie ab: Um die Besetzung des Gebäudes so glaubwürdig wie möglich erscheinen zu lassen, brauchte es einen Täter, dem man den Überfall auch zutraute. In den Tagen zuvor hatten sich Beamte der Geheimen Staatspolizei daher auf die Suche begeben – und waren fündig geworden. Der vermeintliche Verbrecher soll Franciszek Honiok sein, Vertreter für Landmaschinen, ledig. Er stammt aus dem benachbarten Hohenlieben und ist Deutscher. Aber Honiok ist bekannt für seine Sympathien für Polen, wo ein Teil seiner Familie lebt. Beim oberschlesischen Aufstand von 1921 hatte er offen auf der polnischen Seite gestanden. Am 30. August verhaftet ihn die Geheime Staatspolizei. Und während die Erklärung des Überfallkommandos über die Radioapparate verbreitet wird, betäubt der SS-Arzt Horst Straßburger den 41-jährigen Honiok mit einer Spritze. Dann wird er erschossen. Seine Leiche legen die Gestapo-Leute vor dem Eingang des Sendergebäudes ab – als Beweis für die polnische Täterschaft.

Spät am Abend verbreitet das amtliche Deutsche Nachrichtenbüro folgende Mitteilung: "Etwa um 20 Uhr wurde der Sender Gleiwitz durch einen polnischen Überfall besetzt. Die Polen drangen mit Gewalt in den Sender ein. Es gelang ihnen, einen polnischen Aufruf in polnischer und zum Teil in deutscher Sprache zu verlesen. Sie wurden aber schon nach wenigen Minuten von der Polizei überwältigt, die von Gleiwitzer Rundfunkhörern alarmiert worden war. Die Polizei musste von der Waffe Gebrauch machen, wobei es auf Seiten der Eindringlinge einen Toten gegeben hat." Der "Völkische Beobachter" berichtet von "polnischen Horden", die den Krieg zu verantworten hätten.

In den frühen Morgenstunden des 1. September eröffnet das deutsche Kriegsschiff "Schleswig-Holstein" das Feuer auf die polnische Befestigung in Danzig. Dieser Angriff gilt heute als eigentlicher Beginn des Zweiten Weltkrieges. Parallel dazu bombardiert die deutsche Luftwaffe die Stadt Wielun und macht sie dem Erdboden gleich. Einige Stunden später tritt Adolf Hitler in Berlin vor den Reichstag. Er rechtfertigt den Beginn der Kampfhandlungen mit den "Gräueltaten" seitens der Polen: "Nachdem schon neulich in einer einzigen Nacht Grenzzwischenfälle waren, sind es heute Nacht 14 gewesen, darunter drei ganz schwere." Schließlich sagt er: "Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!"

Der Überfall auf den Radiosender in Gleiwitz war nur eine von mehreren Propaganda-Aktionen der SS, die in den Wochen vor dem 1. September die polnische Aggression gegen Deutschland beweisen sollten. Ganz wohl war den Verantwortlichen dabei allerdings nicht: Das Propagandaministerium verbot bald die Berichterstattung darüber, und nach dem Krieg sollte es viele Jahre dauern, bis der Tathergang nahezu lückenlos rekonstruiert werden konnte. Dennoch zählen die Ereignisse rund um das "Unternehmen Tannenberg" zu den bekanntesten und bedeutendsten. Denn die Besetzung des Senders ging dem Einmarsch Hitlers in Polen unmittelbar voraus und trennte Frieden und Krieg nur um wenige Stunden.

Alfred Naujocks, der das Kommando leitete, wurde 1947 an Dänemark ausgeliefert, wo er eine dreijährige Haftstraße wegen der Ermordung dänischer Widerstandskämpfer absaß. 1952 ließ er sich als Geschäftsmann in Hamburg nieder und starb dort 1966. Keines der gegen ihn von der deutschen Staatsanwaltschaft eingeleiteten Ermittlungsverfahren hat je zu einer Anklage geführt.

Untrennbar mit Gleiwitz verbunden bleibt das tragische Opfer dieses Überfalls, Franciszek Honiok. Doch sein Name ist nur wenigen bekannt, die Erinnerung an ihn verblasst. In einem Interview mit der britischen Zeitung "The Telegraph" sagte sein Neffe Pawel vor einigen Jahren: "Meine Familie wusste lange nicht, was mit meinem Onkel überhaupt geschehen ist. Und dann hat sich niemand getraut, darüber zu sprechen. Als Kriegsopfer wurde er nicht anerkannt, weil er doch am 31. August ermordet wurde – und nicht am 1. September."

Doch die Geschichtsschreibung hat Franciszek Honiok längst anerkannt: als ersten Toten des Zweiten Weltkrieges. Über 55 Millionen weitere sollten ihm folgen.

Stand: 04.01.2018