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Ab in die Wildnis!

Kinder erfahren sich in der Natur

Von Daniela Singhal

Schleichen, tarnen, Feuer machen: Wildniscamps sollen Kindern die Natur näherbringen. Gerade für Stadtkinder kann das ungewohnt sein. Ein Besuch in der Wildnisschule Hoher Fläming.

 

Grützdorf, ein idyllisch gelegenes Plätzchen im Hohen Fläming in Brandenburg. Monotone Trommelgeräusche tönen über die Lichtung. Dann Kinderstimmen, die  ein Lied anstimmen: "Mother I feel you under my feet. Mother I feel your heartbeat." 19 Kinder im Alter von fünf bis 15 Jahren sitzen auf Holzbänken um eine Feuerstelle, ein paar Holzscheite glühen vor sich hin. Drumherum: Wald und Wiesen. Der Tag im Wildniscamp beginnt mit der Morgenrunde. "Wer hat den Storch heute Morgen gesehen?" fragt Camp-Leiter Paul Wernicke. Ein paar Kinder heben den Arm. Paul fragt: "Wir haben bis jetzt noch wenig Wild hier gesehen, woran kann das liegen?" Rosalie erklärt sich das so: "Weil wir hier neu auf dem Platz sind und sich die Tiere erst an uns gewöhnen müssen." Wernicke bestätigt ihre Vermutung.

"Wann immer es geht, achtet auf die Baseline um euch herum!" sagt Wernicke zu den Kindern, die ihn gerne Wildnis-Paul nennen. Sie nicken eifrig. Sie wissen, was der Camp-Leiter meint: Die harmonische Grundstimmung des Waldes. Wer die kennt, der kann auch erkennen, wenn sich etwas verändert. Plötzlich hören sich die Geräusche anders an, das Rufen der Vögel wird lauter, sie verraten, dass gerade ein Fuchs durch das Dickicht schleicht. Oder ein Reh. "Es gibt ganz viele verschiedene Alarmsysteme im Wald", erklärt Wernicke. "Ihr könnt üben, sie zu erkennen. Das geht am besten, wenn man ruhig ist und genau hinhört."

Dann berichten die Kinder reihum von ihrer Nacht, wie sie geschlafen haben, wie es ihnen geht. Rosalie (7) erzählt stolz, dass sie am Morgen einen großen Wildhasen entdeckt hat. Sie ist mit ihrem Bruder Matje aus Berlin zum Camp gekommen. Die beiden sind zum ersten Mal dabei – eine ganz neue Erfahrung. Allein das Schlafen im Zelt inmitten der Natur mit ihren ungewohnten Geräuschen bringe laut Wernicke manche schon an ihre Grenzen. Aber die Gruppe sporne sich gegenseitig an. In der Gemeinschaft für eine Woche lernen die Kinder sich gegenseitig zu respektieren und zu integrieren. In den Sprechkreisen wird klar: Der Camp-Leiter versteht es, alle Kinder mit einzubinden.

 

Ilja und Mika haben heute eine ganz besondere Aufgabe bekommen: Sie sollen einen Dachsbau finden. Wernicke gibt ihnen grobe Hinweise, dann schleichen die beiden Jungs barfuss über den Waldboden. Um keine Tiere aufzuschrecken, gehen die beiden im Fuchsgang. "Man geht ein bisschen in die Knie und setzt ganz langsam einen Fuß vor den anderen", erklärt der siebenjährige Ilja.

"Hektische Bewegungen schrecken die Tiere auf." Auf dem Weg entdecken sie Rehspuren. "Guck’ mal, die sind da aus dem Dickicht gekommen, da kann man den Wildwechsel sehen", erklären sie, und man fühlt sich, als sei man mit zwei Förstern unterwegs. Ruhig sein und lauschen und sich achtsam durch den Wald bewegen, das ist eine wichtige Lektion, die die Kinder im Camp lernen.

Am Vorabend saßen sie alle verstreut eine halbe Stunde lang lautlos an einer Stelle im Wald. "Sitzplatz" nennen sie das im Camp. "Man sitzt einfach ganz ruhig da und beobachtet den Wald. Wenn man Glück hat, kann man dann ein Tier sehen", sagt Ilja. Den Dachsbau entdecken die beiden an diesem Tag nicht, aber dafür Hopfenstränge, aus denen sie sich Schnüre machen wollen.

Im Wildnis-Camp können die Kinder lernen, wie man sich eine eigene Schale aus Glut brennt, schnitzt, Feuerholz sammelt, Feuer ohne Streichholz macht, sich lautlos durch den Wald bewegt. Und: Das Camp-Team animiert sie dazu, überall mit anzupacken. Die Kinder werden in Gruppen eingeteilt, die Namen dafür dürfen sie sich selber ausdenken: Dieses Mal sind es die schleichenden Füchse, die kniffligen Wölfe, die getarnten Füchse und die faulen Füchse. Auf einer Tafel wird eingeteilt, welche Gruppe an welchem Tag welche Aufgaben übernimmt: Dienst im Küchenzelt, Feuerholz holen, das Klohäuschen sauber machen – jedes Kind beteiligt sich.

Gekocht wird im extra aufgebauten Kochzelt. Alle packen mit an, es geht um Zusammenhalt und Verantwortungsbewusstsein. Immer abwechselnd helfen die Gruppen den Betreuern der Wildnisschule beim Zubereiten der Speisen. Diese werden gemeinsam an der Feuerstelle eingenommen. Ilja isst aus seiner selbst ausgebrannten Suppenschüssel. Am besten eignet sich dafür Laubholz und Kiefer. Für das Ausbrennen braucht man ein bisschen Geduld, es dauert mehrere Stunden.

Es gibt drei Mahlzeiten am Tag. Vor jedem Essen findet ein ganz besonderes Ritual statt: Die Gruppe bereitet eine kleine Portion in einer Holzschale vor und trägt sie zu Babu -  einer riesigen alten Eiche am Rand des Waldes. In der Dankbarkeitsrunde sagt jedes Kind und auch die Betreuer, wofür sie gerade dankbar sind. "Ich bin dankbar für den Fuchsbau, den wir gestern entdeckt haben." "Ich bin dankbar für das leckere Essen, dass wir hier bekommen." "Ich bin dankbar für das Abschlussspiel, dass wir gestern Abend gemacht haben."  "Die Dankbarkeitsrunde ist wichtig", erklärt Wernicke. "Die Kinder machen sich Gedanken über das, was ihnen gefallen hat und üben sich darin, danke zu sagen."

Am letzten Tag kommen die Eltern ins Camp. Wie an den vergangenen Tagen auch, gibt es einen Redekreis. Die Kinder berichten den Erwachsenen von ihren Erlebnissen in der Wildnis-Woche. Höhepunkt war dieses Mal für viele der im Wald entdeckte Fuchsbau. Sie erzählen, wo sie die tollsten Spuren gefunden haben und spielen Situationen aus dem Tierreich nach. "Die Kinder werden zur Beobachtung angehalten, das finde ich pädagogisch richtig wertvoll. Sie trauen sich was zu, es stärkt ihr Selbstbewusstsein", sagt Iljas Mutter Ruth Koschel. Sie erlebe ihre Kinder nach den Camps viel offener und aufgeschlossener gegenüber den Begebenheiten in der Natur. "Ilja weiß nach den Camps immer lauter neue Sachen, die er dann auch gerne mit mir und dem Rest der Familie teilt: Mama, wusstest Du schon, dass die Rehe gerade ein besonders dichtes Fell haben?"

Der siebenjährige Ilja war schon mehrmals im Wildnis-Camp. Er nimmt auch an der Wildnis-Gruppe teil, die Paul Wernicke alle zwei Wochen anbietet. Einen ganzen Nachmittag sind die Kinder in der Natur und lernen, wie man Spuren liest und die Geräusche im Wald interpretiert. "Ich war selber als Kind viel draußen. Ich war bei den Pfadfindern und habe regelmäßig an Zeltlagern teilgenommen", sagt Iljas Mutter Ruth Koschel. "Das waren sehr prägende Erlebnisse in meiner Kindheit, die ich meinen Kindern auch ermöglichen möchte."

Koschel ist nicht die einzige Mutter, die derartige Angebote schätzt. Immer mehr Eltern schicken ihre Kinder für ein paar Tage in Wildniscamps. Die muss man zwar gut suchen, doch man findet sie immer öfter: Wildnisschulen, die Camps für Kinder und Jugendliche, zunehmend auch für Familien und kinderlose Erwachsene anbieten. Paul Wernicke, Gründer der Wildnisschule Hoher Fläming, hat in den vergangenen Jahren ein deutlich gestiegenes Interesse an den Camps bemerkt.

Rosalie will wie viele andere auch wiederkommen. Am Ende des Camps hat sie keine Lust auf die Rückkehr in die Stadt. Sie findet: "Da gibt es zu wenig Wald und Tiere!"

 

 

 

Stand: 04.01.2018