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Reich an Beziehung

Das Johannesevangelium

Serie von Sonja Angelika Strube

Teil 1

Das Johannesevangelium ist in vieler Hinsicht "anders" als die drei übrigen Evangelien. Eine seiner Besonderheiten ist sein beziehungsreicher Erzählstil: Detailreich schildert es,  wie verschiedene Personen zueinander in Beziehung treten. Durch ihre Worte und Taten, oft auch durch die Beschreibung ihrer Gefühle werden sie so lebendig charakterisiert, dass man sich leicht in sie hineinversetzen kann. All das hat einen tieferen Sinn: Das Johannesevangelium will seine Leserinnen und Leser in Beziehung bringen: miteinander, mit Christus und durch Christus mit Gott.

Vom Weinstock und seinen Reben
"Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht" (Joh 15,5)

Es gibt Bibelverse, die sprechen die Leserinnen und Leser ganz unmittelbar an – so unmittelbar, als wären sie für sie geschrieben, als wollten sie sie in ihrem Lebensalltag ermutigen, bestärken oder trösten. Der Zuspruch Jesu in Vers 14,2 des Johannesevangeliums ist ein Beispiel dafür: "Im Haus meines Vaters gibt es viele Wohnungen … Ich gehe, um einen Platz für euch vorzubereiten." Weil dieser Vers auch heute noch Menschen unmittelbar zu trösten vermag, ist er auf Todesanzeigen und Beileidskarten zu finden. Endlich daheim zu sein ist eine tiefe Sehnsucht vieler Menschen, gerade in dieser umtriebigen Zeit. Am Ende eines Lebensweges zuhause anzukommen und dort – daheim bei Gott – schon erwartet zu werden, ist ein freundlicher Gedanke, der Sterbende und Angehörige trösten kann. Er setzt der schmerzlichen Erfahrung der Trennung die Hoffnung eines endgültigen Wiedersehens und Beieinanderbleibens entgegen.

Ein anderes kraftvolles Bildwort steht ein Kapitel später im Vers 15,5: "Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht." Das Bild stellt Christus als Rebstock vor Augen, aus dem Reben treiben, die im Herbst über und über pralle reife Trauben tragen. Der Rebstock wurzelt tief in der Erde, gibt Halt, saugt Nährstoffe und Wasser auf und nährt die Reben. Nur verbunden mit dem Rebstock können die Reben Frucht tragen. Losgelöst vom Weinstock vertrocknen sie. Wer sich ganz auf das Bild einlässt, kann regelrecht spüren, wie Saft und Kraft des Weinstocks in die Reben strömen, diese nähren und reif werden lassen, und wie diese bildhafte Zusage ihn selbst durchströmt. Das Bildwort lädt dazu ein, um die Verbundenheit mit Christus nicht nur zu wissen, sondern sie auch zu spüren: unser Verwurzeltsein in Christus und das Pulsieren seiner Liebe in uns.

Wie kommt es, dass diese 2000 Jahre alten Verse Menschen immer noch berühren können? Sie verwenden vertraute Bilder, die auch heute noch unmittelbar verständlich sind. Sie sprechen Ursehnsüchte der Menschen an: die Sehnsucht nach Beheimatung, Verbundenheit und einem fruchtbringenden erfüllten Leben. Und es liegt daran, dass schon die Gemeinde des Johannesevangeliums vor der Frage stand, vor der auch heutige Christinnen und Christen und ihre Gemeinden stehen: Wie können wir eine lebendige Beziehung zu Jesus leben, wenn er nicht mehr leibhaftig unter uns ist?

Die beiden Verse vom Bereiten der Wohnung und vom Weinstock finden sich im Johannesevangelium in den sogenannten "Abschiedsreden" Jesu. Zwischen die Erzählung von der Fußwaschung beim letzten Abendmahl und die von der Gefangennahme Jesu fügt der Evangelist vier Kapitel mit Reden Jesu ein. Drei davon schildern Gespräche Jesu mit seinen Jüngerinnen und Jüngern (Joh 14 bis 16), eines formuliert ein langes Gebet Jesu zum Vater (Joh 17).

Viele Texte der Evangelien entführen erzählerisch so lebendig in das Leben Jesu, dass man ihn beim Lesen vor dem inneren Auge regelrecht reden und handeln sehen kann. Die Abschiedsreden dagegen wirken streckenweise so, als seien sie zeitlos gültig, als sprächen sie vielleicht sogar noch in unsere Zeit hinein. Durchgängig erscheinen sie als Weisungen für eine Zeit, in der Jesus nicht mehr auf Erden lebt. Sie trösten und ermutigen eine Gemeinde, die sich – lange nach Ostern – verwirrt, verlassen und verwaist fühlt (14,1.18.27): die johanneische Gemeinde.

Mit den Abschiedsreden ermutigt der Evangelist, den wir "Johannes" nennen, seine Gemeinde am Ende des ersten Jahrhunderts, etwa 70 Jahre nach Jesu Tod und Auferstehung. Wenn wir genau in die Texte schauen, können wir die Situation der Gemeinde schemenhaft erkennen. An den vielen aufmunternden Appellen –  "Euer Herz lasse sich nicht verwirren! Euer Herz beunruhige sich nicht und verzage nicht!" (14,1.27) – lässt sich ablesen, dass die Gemeinde beunruhigt und verzagt ist. Verfolgungen klingen an, wenn der Evangelist seine Gemeinde an das Schicksal Jesu erinnert und diesen sagen lässt: "Wenn die Welt euch hasst, dann wisst, dass sie mich schon vor euch gehasst hat. … Wenn sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen" (15,18.20).

Zudem spiegelt sich im Johannesevangelium ein ganz spezieller Konflikt: Die johanneische Gemeinde verstand sich selbst mitsamt ihrem Glauben an Jesus weiterhin als Teil der jüdischen Glaubensgemeinschaft. Doch die ortsansässige Synagogengemeinde bewertete den recht missionarischen Jesusglauben offenbar als nicht mehr rechtgläubig jüdisch. Mehrfach ist im Johannesevangelium vom Ausschluss aus der Synagoge die Rede (so auch in 16,2). Für die Mitglieder der johanneischen Gemeinde bedeutete das, dass sie sich entscheiden mussten zwischen ihrem Glauben an Jesus und ihrer Zugehörigkeit zur jüdischen Glaubensgemeinschaft. Weil die Abschiedsreden so eindringlich dazu aufrufen, in der Gemeinschaft mit Jesus zu bleiben, ist zu vermuten, dass tatsächlich Menschen die johanneische Gemeinde verließen. Viele Gemeindemitglieder werden auch von Zweifeln geplagt worden sein, ob es tatsächlich "richtig" ist, an Jesus zu glauben, und ob dieser Glaubensweg wirklich zu Gott führt.

Diesen Zweifeln setzt der Evangelist ausdrucksstarke Bilder entgegen. Doch, so bekräftigt er, der Glaube an Jesus führt zu Gott; er führt zum Leben und nicht ins Verderben. Jesus ist "der Weg, die Wahrheit und das Leben" (14,6). Er ist der nährende Weinstock, ohne den keine Rebe leben kann (15,5). Und: Nein, so beteuert der Evangelist, Jesus hat seine Jüngerinnen und Jünger nicht verwaist zurückgelassen. Er geht ihnen voran, um ihnen einen Platz vorzubereiten und sie in die Gemeinschaft mit sich und mit Gott hineinzuholen (14,3). Und er hat ihnen den Heiligen Geist als Beistand gesandt: Kein geringerer als der Geist Gottes selbst lebt und wirkt in der Gemeinde und ihren Mitgliedern. Im Geist Gottes kann die Gemeinde Antworten auf ihre Fragen finden und neue Herausforderungen bewältigen (14,15-18.25-27; 16,7.13).

Schließlich nennen die Abschiedsreden mehrfach eine ganz besondere Quelle der Verbundenheit mit Christus, einen ganz besonderen Ort der Gottesbegegnung: "Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger (und Jüngerinnen) seid: wenn ihr einander liebt" (1,34f; 15,9-17).

Was für die johanneische Gemeinde galt, gilt in vielem auch heute noch: Wir dürfen vertrauen auf den Geist Gottes, der in uns allen lebt und zur Entfaltung kommen möchte. Wir dürfen vertrauen auf das Einander-Lieben als Weg zu Gott, auf die Liebe unter Menschen als Ort, an dem Christus spürbar und erfahrbar ist. Wir dürfen uns geborgen fühlen und vertrauen auf die kraftvollen biblischen Bilder der Verbundenheit und Beheimatung – im Leben und im Sterben.

Stand: 04.01.2018