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"Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben" 

Die sieben Werke der Barmherzigkeit

Serie von Fulbert Steffensky

Die sieben Werke der Barmherzigkeit sind beispielhafte Handlungen, in denen sich die Liebe zum Nächsten zeigt. Die Reihenfolge ihrer Aufzählung folgt der Gerichtsrede Jesu im 25. Kapitel des Matthäusevangeliums. Dort werden diejenigen Erben des Reiches Gottes genannt, die die Hungrigen gespeist, die Durstigen getränkt, die Fremden beherbergt, die Nackten gekleidet, die Kranken gepflegt und die Gefangenen besucht haben. Diesen dort aufgezählten sechs Werken der Barmherzigkeit wird später ein siebtes hinzugefügt: die Toten begraben.

Teil 1:
Die Hungrigen speisen

In jener Gerichtsrede Jesu wird ein Geheimnis aufgedeckt: Es waren nicht nur irgendwelche geschundenen Wesen, die da aufgesucht, bekleidet und gespeist wurden. Christus selbst hat sich verborgen unter der Maske der Bedürftigen. "Was ihr für eines meiner geringsten Geschwister getan habt, das habt ihr mir getan" (Vers 40). Die Werke der Barmherzigkeit sind also nicht nur moralische Akte, es sind Christusbegegnungen. Auf etwas primitive Weise hat die Tradition manchmal behauptet, dass die Gläubigen durch die Werke der Barmherzigkeit ihre Gnade vor Gott vermehren könnten. Primitiv ist diese Auffassung in dem Sinne, dass dadurch die Bedürftigen instrumentalisiert werden zur Gnadenvermehrung. Aber in einem anderen Sinn ist der Satz wahr: In jenen Hungernden, Durstigen, Fremden und Gefangenen ist die Gnade des Gesichtes Christi gewährt.

"Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben" (Mt 25,35) – so lautet das erste in der Gerichtsrede genannte Werk der Barmherzigkeit. Die gründlichste Armut ist der Mangel an ausreichender Nahrung. Dem Hunger gilt deshalb die erste Aufmerksamkeit Gottes, und so heißt es in der Bergpredigt (Lukas 6,21): "Selig, die ihr jetzt hungert, denn ihr werdet satt werden." Die Hungernden werden nicht seliggepriesen, weil sie fromm sind, weil sie den rechten Glauben haben oder besser sind als andere. Sie werden seliggepriesen, weil ihnen das Grundmittel zum Leben verweigert wird, das Brot. Gott hat Lieblingskinder und Menschen seines ersten Augenmerks, es sind die Armen. Grund für ihre Seligpreisung ist nicht irgendein Verdienst, den sie aufzuweisen haben, Grund sind ihre Entbehrungen und die gesellschaftliche Verachtung, die sie erfahren.

Die Frau, die ihr eigenes Kind verletzt, damit es beim Betteln mehr einbringt – sie ist nicht fromm, aber sie ist arm. Viele sind zu arm, um gütig zu sein. Sie sind zu arm, um fromm zu sein. In einem privaten Brief schreibt eine Ärztin aus Bolivien: "Die Armen werden selig gesprochen, weil sie so bitter unselig sind. Armut macht unglaublich hässlich, äußerlich und innerlich. Wenn ich meine Sprechstunde halte, bin ich immer wieder erstaunt über die Hässlichkeit der Armut. Die Armen sehen den Müll nicht, in dem sie leben, sie sehen darin nur, ob man da noch etwas finden könnte zum Essen oder zum Wiederverkaufen. Sie sehen die Schönheit der Natur nicht, sondern denken beim Sonnenuntergang nur daran, ob sie genug Decken zum Zudecken in der Nacht haben."
Im Abschlussdokument der Generalversammlung der Lateinamerikanischen Bischofskonferenz 1979 in Puebla heißt es: "Die Armen verdienen ein vorrangiges Augenmerk, ungeachtet ihrer moralischen und persönlichen Befindlichkeit. Geschaffen nach Gottes Bild und Gleichnis, um seine Kinder zu sein, wird dieses Bild verdunkelt und verhöhnt. Gott übernimmt es, sie zu verteidigen, er liebt sie."

Die Armen also sind die Lieblingskinder Gottes. Der Trostruf an sie ist meistens verbunden mit einem Drohruf gegen die gemachten Leute, die den hungernden Christus übersehen. Jesus sagt in der Gerichtsrede zu ihnen: "Denn ich war hungrig, und ihr habt mir nichts zu essen gegeben. ... Ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan." Das Evangelium erlaubt keine Neutralität. Es stellt jede und jeden vor diese Frage: Auf welcher Seite stehst du? Für wen stehst du auf? Für wen redest du? Mit welchem Interesse schweigst du? Was verschweigst du? Welche Vordringlichkeiten hast Du? Dienst Du Gott oder Götzen?

Die Erzählung vom Weltgericht ist messerscharf. Aber die Bibel ist nicht dazu da, um ein schlechtes Gewissen zu machen, sondern um ein Gewissen zu machen. Das eigene Gewissen lernen, heißt auch, die Ungeduld und den Zorn lernen über Zustände, in denen die einen überfressen sind und die anderen hungern. Der Zorn ist die Gabe derer, die sich nicht abfinden und die das Brot der Armen vermissen.

Den Zorn zu loben ist nicht selbstverständlich. Viel eher lobt man die affektfreie Neutralität, von der man sagt, dass sie den Blick nicht trübt und das Urteil nicht fälscht. Die Behauptung ist falsch, dass man in emotionaler Neutralität ein klareres Urteil habe. Die Theologin und Pulizistin Dorothee Sölle hat mit Blick auf die Verbrechen des 20. Jahrhunderts gesagt: "Die größten und perfektesten Mörder sind nicht emotional reich begabte und leidenschaftliche Menschen gewesen, sondern affektarme Bürokraten, die emotionsfrei Befehle ausführten." Justitia mit der Binde vor den Augen ist in der Tat blind; sie sieht nicht, wen sie beurteilt und verurteilt. Sie sieht keine Umstände, und sie ist der Empörung nicht fähig. Zorn hingegen macht voreingenommen, er öffnet die Augen.

Wer ohne voreingenommen zu sein nach Südamerika fährt, ist in der Lage, wundervolle Strände zu sehen, betörende Sonnenaufgänge zu erleben, ohne aber die hungernden Straßenkinder wahrzunehmen. Es gibt eine unerlässliche Voreingenommenheit, die die Augen öffnet. Wer nicht voreingenommen ist von dem Wunsch nach Gerechtigkeit, der nimmt das Leiden der Gequälten nicht einmal wahr. Voreingenommenheit ist die Bildung des Herzens, die uns das Brot der Armen vermissen lässt.

Ein Urteil zu haben, ist nicht nur die Sache des klugen Verstandes, es ist eine Sache des gebildeten Herzens. Das gebildete Herz ist nicht neutral, es fährt auf, wenn es das Recht verraten sieht. Der Zorn ist eines der Charismen des Herzens. Er ist eine der Eigenschaften Gottes, der nicht duldet, dass Menschen verhungern und dass seine Welt gequält wird. Dieser Zorn will niemanden vernichten, wie Gott den Tod des Sünders nicht will. Er will bekehren. Der gerechte Zorn verurteilt die Tat, aber bejaht den Täter und will ihn zur Veränderung locken. Er gibt ihm "das Recht, ein anderer zu werden" (Dorothee Sölle).

 

 

Stand: 04.01.2018