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In der Mitte der Mensch

Die "deutsche Prophetin" Hildegard von Bingen ist heilig gesprochen und wird zur Kirchenlehrerin erhoben

Von Nikola Hollmann

833 Jahre nach ihrem Tod hat Papst Benedikt XVI. Hildegard von Bingen am 10. Mai heilig gesprochen und am Pfingstsonntag angekündigt, sie am 7. Oktober zur Kirchenlehrerin zu erklären. Damit erhält Hildegards im zwölften Jahrhundert entwickelte kosmologische Theologie und ihre hochmoderne Überzeugung eine Aufwertung, dass der Mensch immer nur als Einheit aus Geist, Seele und Körper verstanden werden muss. Eine Sicht auf den Menschen, der vielen Heutigen den Weg bahnt, ihre Spiritualität und ihre Beziehung zu Gott wiederzuentdecken.

Wenn heute jemand in dieser Weise zum Papst oder den Bischöfen sprechen würde, er – und erst recht sie – würde wohl für verrückt erklärt. Hildegard hat es sich herausgenommen. An das Domkapitel in Köln schrieb sie: "Ihr liebt nicht das heilige Erkennen... Die Posaune des Herrn ist die Gerechtigkeit Gottes ... Ihr müsstet sie pflichtgemäß und im Gehorsam immer wieder den Leuten zu geeigneten Zeiten mit heiliger Diskretion vor Augen halten und nicht im Übermaß sie ihnen einhämmern. Das tut ihr aber nicht wegen der Halsstarrigkeit eures Eigenwillens. ... Ihr seid Nacht, die Finsternis aushaucht, ... Ihr schaut ja nicht auf Gott ... Ihr blickt vielmehr auf eure Werke und urteilt nach eurem Gefallen, indem ihr nach Belieben tut und lasst, was ihr wollt. Allein ihr ... seid kein Halt für die Kirche ... Und wegen eures ekelhaften Reichtums und Geizes sowie anderer Eitelkeiten unterweist ihr eure Untergebenen nicht und gestattet nicht, dass sie bei euch Belehrung suchen ..."

Hildegard sprach nicht aus sich selbst heraus, sondern beschrieb in diesem Brief eine Vision – und dies nicht ohne sich vorher ihr prophetisches Schauen von höchster Stelle autorisieren zu lassen. Der Papst selbst, Eugen III., hatte ihr 1147 bei der Synode von Trier attestiert, sie habe ihre Visionen vom Heiligen Geist.

Diese päpstliche Autorität erhält Hildegard nun, 865 Jahre später, noch einmal bestätigt. Die Benediktinerinnen der von Hildegard selbst 1165 gegründeten Abtei in Eibingen bei Rüdesheim sehen das als Hoffnungszeichen. "Sie ist wichtig für die heutige Zeit", sagt Schwester Philippa Rath. Die studierte Theologin und Historikerin war eine von drei Schwestern aus dem Eibinger Konvent, die mit drei weiteren Hildegard-Forschern im Auftrag der Vatikanischen Kongregation für die Heiligsprechungen die inhaltlichen Grundlagen zum Heiligsprechungsverfahren geschaffen haben.

Freiheit zur Verantwortung

Hildegard sieht den Menschen als Geschöpf Gottes in den Mittelpunkt nicht nur der Schöpfung, sondern der ganzen Heilsgeschichte gestellt, mit Freiheit ausgestattet und mit großer Verantwortung versehen. Schwester Philippa erklärt Hildegards kosmologische Theologie: "Mein persönlicher Lebenswandel entscheidet über den ganzen Kosmos. Was ich tue oder was ich unterlasse, in welcher Weise ich meine Verantwortung wahrnehme, entscheidet nicht nur über mein persönliches Leben, sondern auch über die ganze Welt."

So ist der Mensch Geschöpf (opus) und Mitschöpfer (operarius) zugleich. Durch seine Gottebenbildlichkeit ist der Mensch als Mitschöpfer dazu berufen, Gottes Werk zu vollenden.
Darin, so Schwester Philippa, drücke sich die einmalige Würde des Menschen und die Größe der Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen aus. Darin liege aber auch die Gefahr, dass der Mensch sich selbst überschätze, seinen Auftrag vergesse und seine Rolle missbrauche. Mit allen Konsequenzen, die heute überall zu sehen seien, und die Hildegard im zwölften Jahrhundert in einer bis heute einzigartigen Weise beklagt hat: "Ich sah Regenschauer voller Schmutz, die bei Mensch und Vieh schleichende Schwären und Geschwülste hervorriefen. Nun sind alle Winde Moder des Laubes und die Luft speit Schmutz aus, so dass die Menschen nicht einmal mehr ihren Mund aufzumachen wagen."

Ist es angesichts dieser Schwächen nicht eine Überforderung, den Menschen zum Mit-Schöpfer zu machen? "Für mich liegt darin eine bedeutende und große Chance", widerspricht Schwester Philippa: "Seine einmalige Würde besteht eben darin, dass er als Geschöpf Gottes die Macht hat, den ganzen Kosmos zu beeinflussen. Im Guten wie im Bösen. Mir macht das Mut." Und sie beschreibt die Miniatur zu Hildegards letzter Vision, die sie zwei Jahre vor ihrem Tod niedergeschrieben hat: Die Caritas (Liebe) sitzt in Form einer Frauengestalt auf der Achse der Welt und balanciert sie aus. "Je nachdem, ob der Mensch die Liebe mehrt oder lässt, verändert sich die Welt zum Besseren oder sie gerät aus
den Fugen", beschreibt Schwester Philippa. Wer seinen Einfluss auf den Lauf der Welt so sehen könne, wachse innerlich. "Da gibt es kein oben und unten mehr, da hat ein jeder seine ihm eigene Würde, begründet in der Gottebenbildlichkeit des Menschen."

Bildreiche Deutung der Heiligen Schrift

Das ist eigentlich nicht neu, so steht es schon im Galaterbrief (Vers 3,28): "Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus." Hildegards Verdienst ist die bildhafte Umsetzung dessen, was sie in der Heiligen Schrift gesehen hat. In ihren Visionen liegt der Schlüssel zu einer vertieften, weil sinnlich erfahrbaren Erkenntnis durch Geist, Seele und Körper. Die farbigen Miniaturen, die zum Teil noch unter Hildegards Aufsicht die von ihr beschriebenen Visionen abmalten, sind dabei bis heute eine große Hilfe.

Hildegard ist nunmehr die einzige Kirchenlehrerin, die nicht eine rein vergeistigte Theologie verfasst hat. Ihr Werk ist als ganzheitliches Gesamtwerk zu sehen, bestehend aus ihren visionären theologischen Büchern, den Briefen, Liedern und natur- und heilkundlichen Schriften.
Schwester Philippa nennt dies Hildegards "kosmologische Summe" und freut sich, dass nun endlich Anerkennung erfahre, was über Jahrhunderte von einer verkopften Theologie und ihren fast ausschließlich männlichen Vertretern nur belächelt wurde.

Kreuzestod kein Sühneopfer

"Von dieser 900 Jahre alten Frau" könne die Welt, könne die Kirche also sehr viel lernen. Wie bei Hildegard immer: von ihrem Blick auf den Menschen und sein Geliebtsein durch Gott. Gott weiß um die Fehlbarkeit seines Geschöpfes. Deshalb erlegt er ihm auch nie mehr auf, als es tragen kann. Jedes trägt also die Verantwortung nach seinem Maß. Vor diesem Hintergrund kann kein Moralbegriff bestehen, wie ihn die Kirche heute oft viel zu unbarmherzig vertritt. Bei Hildegard gibt es ihn gar nicht. Die Sünde ist nur mit einem einzigen Ziel zu überwinden: den Menschen zu mehr Freiheit, zum vollen Leben zu befreien. So ist auch der Tod Jesu am Kreuz kein Sühneopfer, sondern Ausdruck der Liebe Gottes, der seine Geschöpfe auf ihrem Weg begleiten will.

Das sind Botschaften, die Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche verstehen. Denn es ist eine Ur-Erfahrung des Menschen, dass es einen Zusammenhang zwischen dem "richtigen" Leben – einem Leben, das den eigenen Ansprüchen und Berufungen folgt – und dem persönlichen Wohlbefinden gibt. Das wusste auch Hildegard, die immer wieder krank wurde, wenn sie, die sie so beseelt von ihrer Botschaft und überzeugt von ihrer Sendung war, dieser nicht folgte. Das ethische Leben des Einzelnen macht ihn oder sie heil, persönlich gesund. Und es kann die Welt retten, fügt Hildegard, die Schöpferin der kosmologischen Theologie hinzu.

Die "Posaune Gottes", wie sich Hildegard selbst nannte, sah sich berufen, die Menschen und die Kirche auf den rechten Weg zu bringen. Die Eibinger Schwestern, die pro Jahr bis zu 150.000 Gäste in ihrer Abtei empfangen, wissen, dass sie bis heute dabei hilft, Menschen zum Glauben, zur Spiritualität zurückzuführen. "Zur Kirche noch nicht", bedauert Schwester Philippa. "Hätten wir mehr Hildegards, würde es leichter gehen." Ein bisschen mehr Hildegard hat der Konvent der Eibinger Benediktinerinnen-Abtei, der den letzten Anstoß zur Heiligsprechung gegeben hat, den Menschen nun ja schon geschenkt. Vielleicht erfüllt sich ja auch noch die Hoffnung der Schwestern, dass Hildegards kosmologische Theologie, ihr Mut, ihre Klugheit, ihr ganzheitliches Wissen vom Menschen und seiner Gesundheit nun größere Beachtung finden werden.

Der Papst hat ihre Bedeutung unterstrichen, und es war ihm offenbar ein sehr wichtiges Anliegen, es in diesem Jahr 2012, dem "Jahr des Glaubens", zu tun. Es wäre schön, wenn durch Hildegard nicht nur Menschen zum Glauben geführt werden, sondern sich die Kirche auch wieder stärker auf den Weg zu den Menschen machte.

Stand: 04.01.2018