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"Hier ist Ihr Leben drin!"

Die Geschichte einer Knochenmarkspende

Von Regina Käsmayr

Andrea Stumpp war 35 Jahre alt und hochschwanger, als sie die Diagnose Leukämie erhielt. Chemotherapie konnte ihr nur kurzfristig helfen. Doch die Stammzellen aus dem Knochenmark von Martin Schloos holten sie zurück ins Leben.

Es gibt Entscheidungen, deren Tragweite man erst gar nicht begreift. Als Martin Schloos im Jahr 1993 bei einer Betriebstypisierung der Deutschen Knochenmarkspenderdatei (DKMS) in seiner Firma mitmachte, wusste er nicht, dass er damit das Leben von Andrea Stumpp rettete.

Zur selben Zeit lebte eine völlig gesunde Andrea Stumpp 350 Kilometer weiter südlich in Tübingen als Sozialpädagogin. Sie wusste nichts von Martin Schloos und seinem spontanen Entschluss, einige Tropfen Blut zu spenden. Sie genoss das Leben mit ihrem Beruf, ihrem Mann und ihrem Stocherkahn auf dem Neckar. Noch fünf Jahre sollte ihr dieses wunderbare Glück des Alltags beschieden sein.

Im Dezember 1998, kurz nach Weihnachten, ändert sich alles. Andrea Schloos ist damals im siebten Monat schwanger. Gemeinsam mit ihrem Mann Achim Ecker erwartet sie ihr zweites Kind. Als sie immer kurzatmiger und schwächer wird, geht sie zunächst von Schwangerschaftsbeschwerden aus. Eine Untersuchung beim Arzt bringt die schreckliche Gewissheit: Andrea Stumpp leidet an Akuter myeloischer Leukämie (AML). "Katastrophal" nennt ein Arzt ihr Blutbild. "Wir müssen sofort mit der Chemotherapie beginnen."

Das ungeborene Kind vorher auf die Welt zu holen, ist nicht möglich. Es ist zu schwach, genau wie seine Mutter. Zwei weitere Tage ohne Behandlung könnten ihrer beider Tod sein. Achim Ecker nimmt unbezahlten Urlaub, der zweieinhalbjährige Tom bekommt einen Notplatz in der Kindertagesbetreuung. Die Erfolgsrate der Chemotherapie liegt bei 40 Prozent. "Das ist nicht so wenig", redet sich Andrea Stumpp ein. "Vielleicht hab ich das Glück, dazuzugehören!" Die 35-Jährige will stark sein, reißt sich zusammen, für ihre Kinder, ihre Familie. Über eine Infusion bekommt sie Blutkonserven, Antibiotika, Cortison und Zytostatika verabreicht. Ihr Körper ist bereits durch die Schwangerschaft geschwächt, die Chemotherapie haut ihn um, ihre Leber verweigert den Dienst. "Mehr als beten konnten wir nicht tun", erinnert sich Achim Ecker.

Doch seine Frau übersteht die erste Chemotherapie. Danach wird per Kaiserschnitt Töchterchen Tarah auf die Welt geholt. Das kleine Mädchen bekommt einen Bluttausch und ein Gerinnungsmittel. Allem Anschein nach hat es keine bleibenden Schäden. Der Vater pendelt fortan zwischen der Krebsstation und der Kinderstation hin und her, trägt das Baby durch Krankenhausflure oder schiebt die Mutter im Rollstuhl durch die Gänge.

Nach drei weiteren Chemotherapien sieht es so aus, als wende sich alles zum Guten. Eine Biopsie bringt das erhoffte Ergebnis: Das Knochenmark von Andrea Stumpp ist frei von Krebszellen. Erschlagen, aber voller Hoffnung macht sich die Familie auf den Weg in eine Familienkur und danach nach Hause. Endlich kann die Mutter sich auf ihr neues Leben zu Viert einstellen. Ihre Haare fangen wieder an zu wachsen, Spaziergänge in der näheren Umgebung machen wieder Spaß. Die Blutwerte sind über Monate stabil. "Wir waren wirklich auf dem Weg zurück in einen ganz normalen Alltag." Bis zu diesem Tag im Juni 2000, als die Werte plötzlich wieder schlecht sind. Andrea Stumpp ist klar: "Die Leukämie ist zurück. Jetzt beginnt eine Horrorzeit."

Schon während ihrer ersten Chemotherapie hat man ihr gesagt, dass es im Notfall einen geeigneten Knochenmarkspender für sie gäbe. Nun ist der Notfall eingetreten.

Bei Martin Schloos im nordrhein-westfälischen Netphen geht in diesen Tagen ein Brief von der DKMS ein. Darin steht, dass er als Spender infrage käme. Ob er sich zu weiteren Untersuchungen bereit erkläre. "Ja, das will ich machen", sagt er seiner schwangeren Frau Christina. Die bestätigt ihn in seinem Entschluss. Also wird nach dem Gesundheitscheck beim Hausarzt ein Termin für die Entnahme von Knochenmark aus dem Hüftknochen ausgemacht. Mittlerweile entscheiden sich nur noch die wenigsten Spender für diese Art der Stammzellenentnahme. Die meisten ziehen die sogenannte periphere Stammzellentnahme vor, bei der – ähnlich wie bei einer Dialyse – medikamentös gebildete Stammzellen aus dem Blutkreislauf geschwemmt werden. Doch diese Methode gab es im Jahr 2000 noch nicht.

Um ihren Körper für die Transplantation vorzubereiten, bekommt Andrea Stumpp erst zwei Hochdosis-Chemotherapien und anschließend sechs Ganzkörperbestrahlungen, die ihr Rückenmark komplett zerstören. "Sie steigen jetzt in einen Zug, aus dem Sie nicht mehr herauskommen", sagen die Ärzte. Die gleiche Information erhält auch Martin Schloos. Wenn er jetzt noch von seinem Angebot zurücktrete, werde die Empfängerin sterben, denn ihr Immunsystem sei zerstört. Doch der Spender steht zu seinem Wort. Wenige Tage nach der Geburt seiner Tochter wird ihm unter Vollnarkose ein Teil Knochenmark entnommen und sofort per Kurier in das Krankenhaus von Andrea Stumpp gebracht. Als die Schwester ihr den kleinen rosa-gelblichen Plastikbeutel zeigt, sagt sie dazu: "Frau Stumpp, hier ist Ihr Leben drin!"

Martin Schloos hat nach dem Eingriff einen kleinen blauen Fleck und Muskelkater von der aufgebockten Liegeposition auf dem OP-Tisch. Einen Tag später darf er wieder nach Hause. Nun hoffen und bangen er und seine Frau um die unbekannte Empfängerin. Was sie nicht wissen: Andrea Stumpp leidet nicht nur unter der Abstoßungsreaktion ihres Körpers auf das fremde Knochenmark. Auch die starke Medikation macht ihr zu schaffen. Sie quält sich mit chronischer Übelkeit, bellendem Husten und psychischen Problemen. Nur die Kinder verhindern, dass sie einfach aufgibt. Ihr Mann ist überlastet, funktioniert wie eine Maschine, kann nicht mehr schlafen.

Martin und Christina Schloos halten die Ungewissheit nicht aus. Bei der DKMS fragen sie nach, was aus der Empfängerin geworden ist. "Es geht ihr gut", lautet die Antwort. Sie erzählen es den Eltern und Nachbarn. Das ganze Dorf freut sich mit. Christina Heitze-Schloos weint vor Freude.

Die erhoffte persönliche Meldung aus Tübingen kommt erst nach einem Jahr, zunächst in anonymer Form. Um den Spender emotional zu schützen, erlaubt die DKMS einen Vollkontakt zwischen beiden Parteien erst nach zwei Jahren – wenn die Hoffnung besteht, dass der Empfänger tatsächlich dauerhaft geheilt ist. Familie Stumpp-Ecker darf aber ein Bild schicken, auf dem alle vier zu sehen sind. Die Mutter noch ohne Haare, aber endlich wieder strahlend. "Das war für mich der bewegendste Augenblick", erinnert sich Martin Schloos. "Da hatte unsere Geschichte mit einem Mal ein Gesicht – oder vielmehr: vier Gesichter."

Im Jahr darauf trafen sich die beiden Familien zum ersten Mal in Tübingen. Seither treffen sie sich alle paar Jahre im Juli, zum Zeitpunkt der damaligen Transplantation. Sie sind Freunde geworden, treten gemeinsam bei Veranstaltungen der DKMS auf und geben Interviews. Äußerlich sind der Zwei-Meter-Mann Schloos und die zierliche Andrea Stumpp zwar ganz verschieden. Doch sie teilen den gleichen Humor und – seit der Transplantation – auch dieselbe Blutgruppe. Nächstes Jahr wird Andrea Stumpp 50 Jahre alt. "Ich bin weit davon entfernt, deswegen eine Krise zu bekommen", sagt sie. Denn die ehemalige Leukämie-Patientin weiß: Ihr Leben hätte auch mit 35 vorbei sein können. "Ich feiere jeden Geburtstag gern. Für mich ist das Älterwerden ein Geschenk."

Knochenmarkspende
Alle 45 Minuten bekommt in Deutschland ein Mensch die Diagnose Leukämie. Die DKMS hat über 2,7 Millionen potentielle Spender registriert, die den Erkrankten helfen können. Jeden Tag erhalten mindestens zehn Patienten Stammzellen von Spendern aus der DKMS. Trotzdem kann für etwa jeden fünften Patienten, der eine Stammzelltransplantation benötigt, noch immer kein geeigneter Spender gefunden werden. Typisieren lassen kann sich beinahe jeder gesunde Mensch schmerzfrei und kostenlos. Weitere Infos: www.dkms.de

Stand: 04.01.2018