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Die Vielfalt schätzen lernen

Menschen mit Down-Syndrom und ihre Familien leiden unter der Ablehnung durch die Gesellschaft

Von Stephanie Meyer-Steidl

Pablo Pineda ist Lehrer und Schauspieler. Er hat ein Diplom in Pädagogik und eine Auszeichnung als bester Darsteller in dem Film "Me too". Und er hat das Down-Syndrom. Der 37-jährige Spanier ist der erste Europäer mit dieser Chromosomenveränderung, der einen Universitätsabschluss vorweisen kann. Nur wenige hatten ihm das zugetraut. Doch seine Eltern glaubten an ihn, brachten dem Jungen früh das Lesen bei und förderten ihn, wo sie nur konnten. Die Grundschule bereitete ihm keine Probleme, und mit zwei Klassenwiederholungen schaffte Pablo auch das Gymnasium, dann die Universität. Der Beginn einer eigentlich unmöglichen Karriere. Pablo Pineda – eine Ausnahmeerscheinung, ein Einzelfall? Nicht unbedingt.

Nadja Rackwitz-Ziegler freut sich über Biografien wie die des jungen Spaniers. Denn sie zeigen, was alles möglich ist. Die 45-Jährige ist Vorsitzende des Münchner Vereins "Down-Kind e. V.". Frustriert von mangelhafter ärztlicher Betreuung, hatten sich vor 20 Jahren einige Elternpaare zu einer Selbsthilfegruppe zusammengetan. Inzwischen sind über 200 Familien Mitglied bei "Down-Kind". Der Verein berät in der Schwangerschaft und nach der Geburt, organisiert Vorträge, Workshops und betreibt unermüdlich Aufklärung in Sachen Down-Syndrom.

Die ist immer noch bitter nötig. Denn die Vorurteile halten sich hartnäckig, und tief verankert sind diffuse Ängste vor dem ganz Anderen, dem Unbekannten. "Klein, dick, lieb, aber doof" ist eines der gängigen Klischees – das auch Nadja Rackwitz-Ziegler nicht fremd war, als sie vor zwölf Jahren selbst Mutter einer Tochter mit Down-Syndrom wurde. Schockiert war sie, als ihr eine junge Ärztin nach der Geburt die Diagnose auf dem Krankenhausflur mitteilte. Der behandelnde Arzt informierte sie dann innerhalb einer Stunde über alle möglichen Schrecken und medizinischen Komplikationen, die ein Down-Syndrom mit sich bringen könne. "Keine dieser Komplikationen ist bis heute eingetreten", sagt Rackwitz-Ziegler. Die Beratung beendete der Mediziner mit einem vermeintlichen Trost: "Wenigstens wird ihre Tochter keine Mörderin werden." Immer noch ist die studierte Sinologin fassungslos, wenn sie an die damalige Situation zurückdenkt.

Mittlerweile ist der Alltag der Familie so, wie er mit einem zwölfjährigen Kind eben ist: Lea besucht eine integrative Schule, sie treibt Sport, spielt Klavier und geht gerne shoppen. Einen Berufswunsch hat sie auch schon: Kindergärtnerin. Gewiss, Lea benötigt mehr Zeit und Aufmerksamkeit, Lernimpulse verarbeitet sie deutlich langsamer als Kinder ohne Down-Syndrom, abstrakte Größen wie Zahlen und Zeit bereiten ihr Schwierigkeiten. Aber ihre Mutter betont: "Unser Leben könnte so normal sein wie das anderer Familien auch – wenn die Außenwelt nicht wäre." Die Außenwelt. Die mache es werdenden Eltern immer wieder sehr schwer, sich für ein Kind mit Down-Syndrom zu entscheiden. Neun von zehn Schwangerschaften werden nach der Diagnose abgebrochen. Die Vorstellung von einem Kind, das von der üblichen Norm abweicht, scheint für die meisten nur schwer erträglich.

Höher, weiter, schneller, schöner. "Er ist gesund, fröhlich und perfekt" – so verkündete vor kurzem die US-Schauspielerin Megan Fox die Geburt ihres Sohnes auf Facebook. Wer dem Leistungsdruck standhält, kann sich glücklich schätzen. "Mit unseren behinderten Kindern sitzen wir in der Schmuddelecke", stellt Rackwitz-Ziegler ernüchtert fest. "Aber letztlich passen Alleinerziehende, Menschen mit Migrationshintergrund und Alte ebenfalls nicht in dieses Perfektionsraster. Das setzt mir manchmal noch viel mehr zu."

Laut einer Studie von Wolfram Henn, Humangenetiker und Mitglied der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer, sieht sich rund ein Viertel der betroffenen Paare mit dem Tadel konfrontiert, dass so etwas heutzutage doch nicht mehr sein müsste. Aus den Beratungsgesprächen weiß Nadja Rackwitz-Ziegler: "Schwang früher in solchen Kommentaren vor allem Unverständnis oder Mitleid mit, hören Eltern seit einiger Zeit den Vorwurf heraus: Wie könnt ihr in Zeiten der Wirtschaftskrise dieser Gesellschaft mit all ihren finanziellen Belastungen noch einen weiteren Kostenfaktor zumuten?"

Effizient denken, ökonomisch handeln – zu dieser Entwicklung scheint es zu passen, dass Ende August 2012 in Deutschland der sogenannte "Praenatest" zugelassen wurde. Lediglich auf Basis einer kleinen Menge mütterlichen Blutes kann dieser ab der zwölften Schwangerschaftswoche einen ersten Hinweis darauf geben, ob bei dem ungeborenen Kind ein Down-Syndrom vorliegt oder nicht. Bei entsprechendem Verdacht ist allerdings weiterhin eine Fruchtwasseruntersuchung erforderlich, die mit einem gewissen Fehlgeburtsrisiko verbunden ist (siehe Stichwort).

Rund um die Einführung des Tests kam kurzzeitig eine intensive gesellschaftliche Debatte in Gang. Befürworter verweisen darauf, dass die Methode für eine Erstdiagnose frei von gesundheitlichen Risiken ist: Unnötige Abgänge von Embryonen mit normaler genetischer Ausstattung könnten damit vermieden werden. Vertreter aus Kirchen und Selbsthilfeorganisationen äußerten sich dagegen zumeist ablehnend. So gab Hubert Hüppe, der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, zu bedenken, dass Menschen mit Down-Syndrom jetzt noch leichter zu selektieren seien. Deutliche Worte fand auch Gerald Hüther, Professor für Neurobiologie an der Universität Göttingen, im Bayerischen Rundfunk: "Diese Tests wollen alles normen, wollen alles einer Welt, in der alles gleich wäre, unser Gehirn nichts Stimulierendes mehr vorfinden würde. Wir verblöden an unserer Gleichartigkeit."

Ein Hochglanzmagazin der ganz anderen Art ist "Ohrenkuss". Die Autorinnen und Autoren, die für die zwei Mal jährlich erscheinende Zeitschrift arbeiten, haben alle das Down-Syndrom. Sie schreiben über Themen wie Luxus und Genuss, Zeit oder Kunst. Aus ihren Texten spricht Lust und Leidenschaft und ein ganz besonderer Blick: "Poesie ist ein Leuchtfeuer im Runkeldunkel der Welt" oder "Ein Reh ist eine Seele auf vier Beinen", heißt es da.

Initiatorin und Chefredakteurin des Magazins ist die Biologin und Humangenetikerin Katja de Bragança. Mit dem Projekt wollte sie beweisen, dass Menschen mit Down-Syndrom lesen und schreiben können. Es ist ihr gelungen. Ohrenkuss will gut unterhalten, aber auch informieren, aufklären, Ängste abbauen. Seit 15 Jahren. "Eine Gesellschaft, die realistisch Bescheid weiß über das Down-Syndrom, hält auch einen Praenatest aus", meint de Bragança. Das Problem seien nicht der Test, sondern die vielen Vorurteile, die immer noch in den Köpfen herumschwirrten. Aber die Zeiten begännen sich zu ändern, viele junge Menschen besuchten die Facebookseite von Ohrenkuss, seien offen für Dialog und Diskussion. "Wir sollten die Vielfalt schätzen lernen", appelliert Katja de Bragança.

Eine der Autorinnen des Magazins ist Carina Kühne. Die 25-Jährige unterhält einen eigenen Blog im Internet, wo sie sich auch zum Praenatest äußert – und wie es ihr damit geht, als Mensch mit Down-Syndrom. Ihre Worte sind wohlüberlegt, machen nachdenklich, gehen unter die Haut: "Das Down-Syndrom ist keine Krankheit. Man leidet nicht darunter – man leidet nur unter der Ablehnung der Mitmenschen."

Nadja Rackwitz-Ziegler, Vorsitzende des Vereins Down-Kind, engagiert sich zunehmend politisch, seit kurzem ist sie Mitglied des Behindertenbeirates der Stadt München: "Deutschland hat sich mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention dazu verpflichtet, alle Menschen in dieser Gesellschaft mitzunehmen." Die sogenannte Inklusion, ein langwieriger Prozess. "Ich kann mit dem Praenatest leben", sagt Rackwitz-Ziegler, "wenn er eingebettet ist in eine Diskussion darüber, wie wir alle die Inklusion leben wollen, wie wir zu Minderheiten stehen." Und wenn er verknüpft ist mit einer umfassenden medizinischen und familientherapeutischen Beratung.

Werdende Eltern, die zu ihr kommen, klärt Rackwitz-Ziegler auf, ohne etwas zu beschönigen. Sie möchte ihnen vermitteln, dass ein Kind mit Down-Syndrom sicher eine Herausforderung ist. Manches ist anders, vieles dauert länger. Aber die Eltern sollen wissen, dass sie nicht alleine sind, dass sie Hilfe bekommen und dass es immer eine Lösung gibt. Sie möchte den Eltern vermitteln, dass sie guter Hoffnung sind.

Internetseiten
www.ohrenkuss.de
www.down-kind.de
carinasblog.de

Stichwort: Down-Syndrom

Jedes Jahr kommen in Deutschland etwa 1200 Kinder auf die Welt, die eine Trisomie 21 aufweisen. Bei dieser genetischen Veränderung ist das 21. Chromosom in jeder Körperzelle dreimal statt zweimal vorhanden: Die Zellen verfügen dann über 47 statt der üblichen 46 Chromosomen. Mit zunehmendem Alter der Mutter steigt die Wahrscheinlichkeit, ein Kind mit Trisomie 21 zu bekommen. Die meisten Babys werden allerdings von Frauen unter 35 Jahren zur Welt gebracht, da bei diesen die pränatale Diagnostik nicht so umfangreich ist wie bei älteren Schwangeren. Neun von zehn Frauen entscheiden sich nach der Diagnose für den Abbruch der Schwangerschaft.

1866 beschrieb der englische Arzt und Neurologe John Langdon-Down erstmals unter wissenschaftlichen Gesichtpunkten die besonderen körperlichen und geistigen Merkmale von Menschen mit Trisomie 21. Die heute gebräuchliche Bezeichnung "Down-Syndrom" leitet sich von seinem Namen ab. Der Begriff "Mongolismus" ist diskriminierend und wird offiziell nicht mehr verwendet.

Menschen mit Down-Syndrom sind in ihren geistigen Fähigkeiten oft eingeschränkt, viele haben eine schwach ausgeprägte Muskulatur, etwa 50 Prozent kommen mit einem Herzfehler zur Welt. Doch die Spannbreite der Entwicklung ist – wie in der Mehrheitsgesellschaft auch – groß: Während einige wenige nie sprechen lernen, machen manche einen Hochschulabschluss. Es gibt Menschen mit Down-Syndrom, denen jeder Schritt schwer fällt, andere wiederum laufen Marathon.

Stichwort: Praenatest

Seit August 2012 reichen 20 Milliliter Blut aus der Armbeuge der Mutter, um das Down-Syndrom mit hoher Verlässlichkeit zu diagnostizieren oder auszuschließen. Möglich ist dies, weil im mütterlichen Blut kleinste Bestandteile des kindlichen Erbgutes zirkulieren. Ist der Befund positiv, wird zur endgültigen Abklärung jedoch weiterhin die Entnahme von Fruchtwasser empfohlen. Dieser Eingriff erfolgt durch die Bauchdecke in die Gebärmutter und ist mit einem Fehlgeburtsrisiko von bis zu einem Prozent verbunden. Das Gendiagnostik-Gesetz schreibt für beide Testverfahren sowohl vor- als auch nachher eine qualifizierte Beratung vor.

Hatten bei Einführung des Praenatests im Sommer 2012 etwa 70 Praxen und Kliniken im deutschsprachigen Raum den Test im Angebot, waren es nach Angaben der Herstellerfirma LifeCodexx zwei Monate später bereits 120. Der PraenaTest zählt zu den "Individuellen Gesundheitsleistungen", die Kosten in Höhe von rund 1250 Euro müssen also von den Patientinnen selbst getragen werden.

Stand: 04.01.2018