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Brücke in die Erinnerung

Sophie Rosentreter dreht Filme für Menschen mit Demenz

Von Jutta Oster

Sie hat als Model, Moderatorin und Fernsehredakteurin gearbeitet. Doch so ganz hat Sophie Rosentreter sich in der Medienwelt nie zu Hause gefühlt. Die Demenzkrankheit ihrer Großmutter brachte die Wende: Die Hamburgerin gründete 2010 die Firma "Ilses weite Welt" und produziert seitdem spezielle Filme und Begleitmaterialien für Demenzkranke.

Es ist einer dieser Momente, in denen Sophie Rosentreter weiß: Ihre Idee funktioniert. In einem Pflegeheim zeigt sie vor einer Gruppe von Menschen mit Demenz ihren ersten Film. In einer Szene ist ein Kind zu sehen, das im Tierpark eine Ziege streichelt, seine Hand vergräbt sich im Fell des Tieres. Eine alte Frau steht auf, geht zum Fernseher und streichelt den Bildschirm. Die Szene hat sie so berührt und vielleicht an ihre eigene Kindheit erinnert, dass sie das Tier selbst anfassen will. Genau das, was Sophie Rosentreter erreichen möchte. Die Hamburgerin macht Filme für Menschen mit Demenz. Damit betritt sie Neuland, etwas Vergleichbares hat es bisher noch nicht gegeben auf dem Markt.

"Bilder zum Mitfühlen"
Die Filme haben lange Einstellungen und wenig Handlung, die Kamera geht nah an die Szenen heran. Von "Bildern zum Mitfühlen" spricht die 36-Jährige, Zuschauerinnen und Zuschauer sollen sich fühlen, als seien sie selbst Teil des Geschehens – wie die Frau im Pflegeheim. Da sind Kinder, die Tiere füttern, Hundewelpen, die miteinander raufen, Babys, die in die Kamera lachen. Drei Filme gibt es bereits, weitere entstehen zurzeit. Etwa der Film "Haushaltsglück", der den Alltag einer Frau in den 50er-Jahren zeigt: einkaufen, nähen, kochen, mit den Kindern essen. Die Szenen sollen eine Brücke in die Erinnerungswelt der Demenzkranken sein und die Menschen, die oft teilnahmslos sind, wieder öffnen.

Noch immer schwingt Stolz in ihrer Stimme mit, wenn Sophie Rosentreter von ihrem Projekt erzählt. Sie klappt ihren Laptop auf und zeigt eine Szene, die sie in einem Pflegeheim aufgezeichnet hat. Wach und aufmerksam schauen die Bewohner auf den Fernseher, während ihr Film läuft. Die Leiterin des Pflegeheims hatte ihr vorausgesagt, dass eine Frau, die sonst oft unruhig und aggressiv ist, nicht mal fünf Minuten würde sitzen bleiben. Doch sie blieb ruhig sitzen – anderthalb Stunden lang. Bei einem anderen Termin konnte sich eine Heimbewohnerin mit Demenz wieder an ihren Mädchennamen erinnern, den sie seit einem Jahr vergessen hatte.

Ihre Großmutter litt unter Demenz
Für Sophie Rosentreter sind das Erfolge. Vielleicht weil sie selbst weiß, wie sehr diese Krankheit einen Menschen verändern kann. Ihre Großmutter Ilse Bischoff litt seit dem Jahr 2000 an Demenz. Erst waren da nur vage Anzeichen, die Oma verlegte die Schlüssel, tat Salz statt Zucker in den Grießbrei. Doch die Anzeichen verdichteten sich. Sophie Rosentreter erinnert sich an ein Weihnachtsfest, bei dem die Oma die Geschenke nicht mehr fand und die Familie beschuldigte, sie bestohlen zu haben. "Wir sind physisch und psychisch an unsere Grenzen gegangen", sagt die Hamburgerin heute.

Sie hatte immer ein enges Verhältnis zu ihrer Großmutter, die im selben Haus wohnte. Als diese  nach sieben Jahren in einem unbeobachteten Moment gestürzt war, beschloss die Familie, dass Ilse Bischoff in einem Pflegeheim am besten aufgehoben wäre. Sophie Rosentreter war dort oft zu Besuch und beobachtete, dass es kaum Beschäftigungsmöglichkeiten für Menschen mit Demenz gibt, dass sie oft vor den Fernseher gesetzt werden, ohne mit den Bildern etwas anfangen zu können, ja sie als bedrohlich empfinden. "Es hat mir das Herz gebrochen, wenn ich wieder gehen musste und wusste, dass meine Oma allein auf dem Sofa zurückblieb und Löcher in die Luft starrte", sagt sie. "Ich wünschte mir, dass ich sie in eine warme Decke aus Bildern einhüllen könnte."

Im Sommer vor drei Jahren starb die Großmutter. Aber eine Idee war geboren. Nur einen Tag nach der Beerdigung rief Sophie Rosentreter in der Produktionsfirma an, für die sie als Freiberuflerin Filme produzierte, und sagte Bescheid, dass sie von nun an nicht mehr kommen würde. Intensiv arbeitete sie sich in das Thema Demenz ein. Anderthalb Jahre später gründete sie ihre Firma "Ilses weite Welt" in Lüneburg, die zu den Filmen auch passende Begleitmaterialien wie Fotokarten, Gesprächsleitfäden, Fühlkissen und Kuscheltiere vertreibt. Entstanden ist ein interaktives Beschäftigungsmaterial, das neben dem Sehen auch das Hören und Fühlen anspricht. Die Idee, die sich an Pflegeprofis und Angehörige richtet, ist mit mehreren Preisen ausgezeichnet worden. Für "Ilses weite Welt" arbeitet Sophie Rosentreter mit Experten aus den Bereichen Pflege und Altersforschung zusammen, sie kooperiert außerdem mit der Universität Lüneburg. Namensgeberin für die Firma war – natürlich – die Großmutter, die die Filme vor ihrem Tod nicht mehr sehen konnte. Das erzählt ihre Enkelin etwas wehmütig.

Auf die Welt der Demenzkranken einlassen
Sophie Rosentreter hat keine Scheu im Umgang mit demenzkranken Menschen. Im Gespräch haut sie mit der Faust auf den Tisch, um zu zeigen, wie sie kürzlich in einem Pflegeheim gemeinsam mit einer alten Frau geschimpft hat. Und weil die sich in ihrem Ärger verstanden fühlte, ließ sie sich schnell wieder beruhigen. Die Hamburgerin hat den unbedingten Willen, sich auf die Welt der Demenzkranken einzulassen. Wenn sie über ihre Arbeit spricht, wird ihre Stimme wärmer und ihre Gestik lebhaft. Sie erzählt, dass sie hier ihre Berufung gefunden hat, dass sie von dem Thema nicht mehr lassen will. Neulich hat sie mit einem Heimbewohner "Hoch auf dem gelben Wagen" gesungen. Der Mann spricht sonst kaum, plötzlich fiel ihm noch die vierte und fünfte Strophe des Liedes ein. "So viel Erfüllung kann mir kein Interview mit Jon Bon Jovi im Privatjet bieten", sagt die 36-Jährige.

Ihr früheres Leben als Model und Moderatorin vermisst sie nicht. Als 16-Jährige war Sophie Rosentreter für vier Jahre ins Ausland gegangen, um als Model zu arbeiten. Zurück in Hamburg machte sie ihr Abitur nach und moderierte beim Musiksender MTV, fünf Jahre lang. Natürlich ist ihr klar, dass ihre Bekanntheit ihr bei der Vermarktung ihrer Idee hilft. "Sonst würde mir heute kaum einer zuhören." Vor die Kamera will sie aber nur noch treten, wenn es um das Thema Demenz geht.

Ihr ist wichtig, dass Demenzkranke nicht länger stigmatisiert werden. Sie wünscht sich, dass man in Deutschland anders mit der Krankheit umgeht. Dass Betroffene und Angehörige sichtbarer werden. Dass es nicht immer nur um Horrorszenarien geht, wenn von der Krankheit die Rede ist. Ohnehin ist Demenz kein Randphänomen mehr: Nach Angaben der Deutschen Alzheimer Gesellschaft leben 1,4 Millionen Demenzkranke in Deutschland, davon über zwei Drittel Frauen. Der größte Teil, 70 Prozent, wird von Familienmitgliedern versorgt. Sophie Rosentreter will mit ihrer Idee die Leere füllen, die sich oft im Leben von Demenzkranken auftut, und ihnen wie ihren Angehörigen glückliche Momente ermöglichen. "Leere Momente mit Schönem füllen", steht auf ihrer Visitenkarte. Sie hat auch ein Buch geschrieben, mit dem sie über die Krankheit aufklären will ("Komm her, wo soll ich hin? Warum alte und demenzkranke Menschen in die Mitte unserer Gesellschaft gehören", Westend 2012).

Letztlich geht es ihr ein wenig auch darum, dass Menschen mit ihr eines Tages gut umgehen, wenn sie mal alt ist und verwirrt sein sollte. "Wenn ich ins Café gehe und mir Kuchen mitnehme, ohne zu bezahlen, soll keiner die Polizei rufen."

Stand: 04.01.2018