"Frau und Mutter"-Serie: 30 Jahre Mauerfall
Geschichten zur Einheit: September 1989
Dieser starke Drang nach Freiheit
Es hat sich nicht nach Flucht angefühlt. Eher nach verlängerten Ferien. Tina Umlauf ist gerade sieben Jahre alt geworden, als ihre Eltern beschließen, die DDR zu verlassen. So wie Tausende andere Bürgerinnen und Bürger wollen sie über Ungarn in den Westen fliehen. 30 Jahre ist das jetzt her. Für die heute 37-Jährige ist die Geschichte ihrer Familie eine spannende Reise in eine tief vergrabene Vergangenheit.
Von Jutta Laege
Er hatte erste Löcher bekommen, der Eiserne Vorhang an der ungarisch-österreichischen Grenze - im Sommer vor 30 Jahren. Der Wind von Wandel und Perestroika durchwehte die osteuropäischen Staaten.
Im Mai 1989 hatte Erich Honeckers SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) die Ergebnisse der Kommunalwahlen so eindeutig gefälscht, dass sich auch in der DDR immer mehr Protest regte.
Verbunden allerdings mit einem Phänomen, das der Bürgerrechtler und Theologe Friedrich Schorlemmer später als "Bazillus des Weggehens" bezeichnete. In den Sommerferien des Jahres 1989 brach die Flucht-Epidemie aus. Mittendrin: Familie Umlauf aus Halle an der Saale.
Familie Umlauf plant die Flucht in den Westen
Hans-Günther will mit seiner Frau Heike und den Kindern Tina (7) und Florian (3) nach Ungarn, um von dort in den Westen zu gelangen. Tochter Tina, heute 37, hat anlässlich des Jahrestages der Flucht mit ihrem Vater erstmals intensiv über die Ereignisse vor 30 Jahren gesprochen, auch, weil sie selbst noch so viele Fragen hat.
Was hat ihn damals bewogen, seine Heimat zu verlassen? Für Hans-Günther Umlauf waren die sich mehrenden Nachrichten von Fluchten aus der DDR maßgeblich. Sie bestärkten ihn: "Wenn die das schaffen, schaffen wir das auch!"
Tina Umlauf erinnert sich an das Gefühl, das ihr Vater ihr erst später beschrieben hat: "17 Millionen Menschen sind eingesperrt, abzüglich derer, die da freiwillig mitmachen. Ich will nicht mehr eingesperrt sein."
Sie selbst hat nur rudimentäre Erinnerungen an ihre Kindheit in der DDR - und es sind nicht die besten. "Im Kindergarten gab es eine sehr strenge Erziehung. Wir waren wie in einem Korsett. Ich wurde zum Schlafen gezwungen, selbst wenn ich nicht schlafen konnte. Ich habe das damals nicht begriffen, aber es fühlte sich nicht richtig an."
Sommer 1989: Gehen oder bleiben?
Dann beginnen die Sommerferien 1989. Eine Familie vor der Zerreißprobe - wie so viele in diesen Wochen. Gehen oder bleiben, Kampf oder Flucht? Was passiert hier noch? Was erwartet uns drüben? Was und vor allem wen lässt man zurück?
Seine Eltern weiht Hans-Günter Umlauf nur knapp ein: "Wenn wir nach Österreich weiterfahren, hier ist vorsorglich unser Wohnungsschlüssel." Ob es ein Wiedersehen geben wird? Niemand weiß das in diesem Sommer 1989.
Sie brechen mit ihrem Campingzelt Richtung Plattensee (Balaton) auf - erstmal "Ferien". Doch eigentlich sind sie, auch wenn die Kinder nichts davon ahnen, schon jetzt "Republikflüchtlinge".
Viermal versuchen die Umlaufs in den acht Wochen zwischen ihrer Abreise aus der DDR und der Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze zu fliehen. "Wir machen einen Ausflug, hat Papa immer gesagt."
Mit dem Lada fahren sie erstmal bis zur "grünen Grenze", laufen mehrere hundert Meter durchs Grenzland, doch dann ist Schluss. Eine ungarische Grenzpatrouille greift sie auf. Hans-Günther Umlauf redet sich raus. "Wir haben uns beim Wandern verlaufen."
Der zweite Versuch führt übers Wasser. "Wieder ein Ausflug, diesmal mit dem Boot", erzählt die Tochter. Auf dem Neusiedler See, der von Budapest und vom Balaton gut drei Autostunden entfernt liegt, werden sie von einem Schnellboot gestoppt. Die ungarischen Beamten wollen die Pässe sehen, dann müssen sie umsteigen und zurück zur Einstiegsstelle.
"Die Ungarn waren freundlich, hat mein Vater mir erzählt. Vielleicht wegen der Kinder." Die Umlaufs kommen glimpflich davon und finden auch ihren Wagen wieder. Den hat Vater Umlauf nicht vergessen. "Der Lada war unser treuer ostdeutscher Freund, der uns nicht verlassen hat."
Wie kommen wir weg? Sich vorzustellen, wie sehr ihre Eltern diese Frage geplagt und wie beharrlich sie weiter nach Fluchtmöglichkeiten gesucht und geplant haben, ist für Tina Umlauf sehr bewegend.
Auch Fluchtversuch Nummer drei scheitert
Der dritte Fluchtplan geht ebenfalls schief. Am Grenzübergang Sopron warten sie 150 Meter hinter dem Schlagbaum. Ihr Vater will nun irgendwie durchbrettern, hängt sich hinter ein Auto mit Hamburger Nummernschild. Doch das bremst plötzlich ab - und sie stecken wieder in der Kontroll- und Grenzfalle.
Ihre Mutter Heike hat Tina Umlauf berichtet: "Die Grenzpolizisten kamen mit Waffen, wir wurden zwei, drei Stunden in separaten Räumen festgehalten." Schließlich sei ein ungarischer Dolmetscher gekommen, der sie vertröstet habe: "Bleiben Sie in der Botschaft, es wird für sie in absehbarer Zeit eine Lösung geben."
Die deutsche Botschaft in Budapest ist zu dieser Zeit, wie auch die in Prag, eine der wesentlichen Anlaufstellen für die, die ausreisen wollen. Familie Umlauf war vom Plattensee zunächst auch dorthin gefahren, doch die Botschaft war schon überfüllt.
Man schickt sie auf das Zugliget-Kirchengelände, wo der Malteser-Hilfsdienst aus der Bundesrepublik eines von mehreren Zeltlagern aufgebaut hat. Die Bilder vom Gelände mit den vielen Zelten hat Tina Umlauf tatsächlich noch im Kopf. Und eine Szene, die mit dem vierten Fluchtversuch verbunden ist.
Plätze im "Fluchtbus"
Ihr Vater hat vier Tickets für Plätze in einem "Fluchtbus" ergattert. Morgens um fünf fahren sie erneut Richtung Grenzgebiet. Doch dann steht plötzlich kurz vor der Grenze ein Mähdrescher im Weg. So erinnert sich ihr Vater.
Tina Umlauf weiß nur noch, dass sie aus dem Bus gescheucht wurden, ihre Mutter sie an die Hand nahm und rief: "Renn, Tina, renn!" Und: "Papa hatte Florian auf dem Arm und ich habe unterwegs eine Sandale verloren." Der vierte Fluchtversuch, so rekapituliert ihr Vater später, war eine Falle. Sie wurden verraten.
Sie bleiben in Wartestellung, wohnen inzwischen in einem von Ungarn zur Verfügung gestellten Appartement in einer Wohnsiedlung in Budapest. Ein Zurück gibt es nicht mehr.
Dann gibt es doch ein Vorwärts: Am 10. September um Mitternacht öffnet Ungarn die Grenze für die DDR-Flüchtlinge. Familie Umlauf reist aus, über Passau nach Kassel zu einer Tante der Mutter, die sie erstmal aufnimmt.
Geradewegs in ein neues Leben
"Wir wohnen jetzt hier, wird man uns gesagt haben", mutmaßt Tina Umlauf. So genau weiß sie es nicht mehr. Ihre Spielsachen vermisst sie, aber es geht jetzt geradewegs in ein neues Leben.
"Ich wurde am 18. September im Westen eingeschult, leicht verspätet. Die Lehrerin hat nur gesagt: Das ist Tina, und die ist zwei Wochen zu spät."
Für ihre Eltern sei die "neue Zeit" wohl nervenaufreibend gewesen, sie selbst habe sich aber schnell eingelebt. Auch wenn sie sich "anders" gefühlt habe. "Nicht als Flüchtling, aber anders."
Lange bleibt ihr der Zugang zur eigenen DDR-Geschichte versperrt. "Wir haben einfach nicht mehr drüber gesprochen", sagt Tina Umlauf.
Wäre ich anders geworden, wenn wir dageblieben wären?"
Die junge Frau hat inzwischen viel über ihr Leben und ihren Werdegang nachgedacht. "Wäre ich anders geworden, wenn wir dageblieben wären?"
Als studierte Fotodesignerin will sie "den Moment festhalten", liebt die Beständigkeit. Doch genauso groß ist ihr Freiheitsdrang, sie hat schon die halbe Welt bereist.
"Egal wo ich hinkomme, ich habe dann immer das Gefühl, da kann ich auch bleiben." Für ihre Eltern und deren Mut empfindet sie Dankbarkeit. Und im Glauben einer freikirchlichen Gemeinde hat sie ihre spirituelle Heimat gefunden. Das empfindet Tina Umlauf als großes Glück: "Ich hatte von Gott ja noch nie was gehört."
P.S.: Nach dem Fall der Mauer reiste Tina Umlauf mit ihren Eltern natürlich wieder in ihre alte Heimat. Die Großeltern lebten noch ein paar Jahre dort. Ihre alten Freundinnen aus der Kindergartenzeit hat sie allerdings nie wieder getroffen.
In der nächsten Ausgabe lesen Sie: Leipzig 1989 - Von den Friedensgebeten bis zur friedlichen Revolution
Außerdem in der neuen "Frau und Mutter"