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100 Jahre Frauenwahlrecht - 100 Jahre Frauengeschichten

Seit Frauen am 19. Januar 1919 erstmals wählen durften, haben sie sich nicht mehr von ihrem Weg zu mehr Selbstbestimmung abbringen lassen. In dieser Serie stellen wir starke Frauen aus zehn Jahrzehnten vor, die Politik, Gesellschaft und Kirche prägten und für Freiheit, Glauben und Gleichberechtigung eingetreten sind. Alle historischen Frauenporträts im Überblick

Folge 3: Gabriele Tergit (1894-1982)

 

Resolute Frau am "Ort der Männer"

Schreiben. Immer will sie schreiben. Zur Zeitung will sie zu allem Übel auch noch. Und das, obwohl Mädchen nicht für Zeitungen schreiben. Es gehört sich nicht, es schickt sich nicht. Es ist ein völliger Tabubruch. Getan hat sie es trotzdem, wahrscheinlich wohl auch gerade deswegen. Gabriele Tergit, erste Reporterin am Kriminalgericht, Schriftstellerin, Gesellschaftskritikerin. 

Von Nadine Diab

Berlin, 1894. Die Journalistin und Schriftstellerin Gabriele Tergit wird als Elise Hirschmann in Berlin als Tochter eines jüdischen Kabelfabrikanten geboren. Ihren späteren Namen Tergit, ein Anagramm aus dem Wort "Gitter", wird sie später als Künstlernamen wählen.

Gegen den Willen ihres Vaters besucht Elise nach der Schule die soziale Frauenschule von Alice Salomon, arbeitet in Kinderhorten, bei der Lehrstellenvermittlung, will nicht die "höhere Tochter" spielen.

Mit 19 Jahren nimmt sie ihre Journalistinnenkarriere in die Hand. 1915 veröffentlicht der "Zeitgeist", eine Beilage des "Berliner Tageblatt" ihren Artikel. Er heißt "Frauendienstjahr und Berufsbildung".

Tergit übermannt plötzlich eine unfassbare Angst. Sie schildert es in ihren Erinnerungen so: "In der Nacht, bevor der Artikel erschien, bekam ich eine tödliche Angst, ich stand auf, zog mich an, aber schon beim Strumpfanziehen wurde mir klar, daß man keine Schnellpresse anhalten kann. Ich erkannte, daß ich zu wenig wußte, und faßte deshalb in dieser schrecklichen Nacht den Entschluß, mein Abiturium zu machen und zu studieren. Als ich zum Frühstück kam, sagte meine Münchner Mama: 'Ja, wie schaust du denn aus?' Als der Artikel erschien, sah ich, daß meine Angst völlig berechtigt war. Ein junges Mädchen aus guter Familie hatte nicht in Zeitungen zu schreiben. Ich begegnete allgemeiner Verachtung."

Sie lässt sich nicht entmutigen. Tergit macht ihr Abitur, studiert danach Geschichte und Philosophie. Jetzt hat sie das Gefühl, gut gerüstet zu sein.

Berlin, 1924. Erich Vogeler, Feuilletonchef des "Berliner Tageblatt", für den Gabriele Tergit seit 1920 Feuilletons schreibt, bietet ihr den Posten als Gerichtsreporterin an.

Vogeler nennt ihr Fall, Ort und Zeit der Verhandlung. Minutenlang steht Tergit vor dem Zuhörerraum. Sie kann sich nicht entschließen, den Saal zu betreten. "Dumm und lebensunfähig", so empfindet sie sich selbst danach. Wochen vergehen, bis sie es wieder versucht. Dieses Mal gelingt es ihr.

Erste Gerichtsreporterin des Deutschen Reiches

"Hier saß ich allein in der vordersten Reihe des Zuhörerraums. Ich schrieb kein Wort mit, um nicht aufzufallen", erinnert sich Tergit später. Alles merkte sie sich. Die Mimik, die Gestik, die Dialoge der Beteiligten. Aus dem Kopf schreibt sie ihre Gerichtsreportage für den Börsen-Courier. Sie, die erste Gerichtsreporterin des Deutschen Reiches.

Tergit promoviert und bewirbt sich beim berühmten Chefredakteur Theodor Wolff. Ihre Art überzeugt ihn. Neun Gerichtsreportagen schreibt sie fortan für 500 Mark.

Das Landgericht Moabit ist Tergits Bühne, auf der sich die ganze Bandbreite der Weimarer Republik spiegelt. Scharfsinnig, lakonisch, scharf, doch nie von oben herab - so kann man ihren Stil wohl beschreiben. Es sind die Geschichten der Menschen, insbesondere die Schicksale der Frauen, die sie bewegen.

Immer wieder berichtet sie über Schwangerschaftsabbrüche, den Paragrafen 218, über Frauen, die in Not abgetrieben haben. Ausführlich schildert sie die Beweggründe, die Frauen zu einer Abtreibung zwingen. Eine Reportage aus dem Jahr 1926 trägt den Namen "Moderne Gretchentragödie".

1928 heiratet Tergit den Architekten Heinrich Julius Reifenberg. Sie ziehen nach Tiergarten, bekommen einen Sohn.

Währenddessen lauern die Nazis, werden stark und langsam überall präsent. Auch im Gericht. "Es ist für sie offenkundig, dass die alten, reaktionären Richter aus der Kaiserzeit den Schlägertypen der SA und nationalsozialistischen Parteimitgliedern mit größerer Sympathie gegenüber stehen als jungen Sozialdemokraten oder gar Kommunisten", fasst der Germanist Hans Wagener zusammen.

"Unsichtbar steht ein großes Hakenkreuz vor dem Richtertisch", so beschreibt Tergit es. Ein Prozess im Januar 1932 bleibt ihr besonders im Gedächtnis. Die Journalisten sind gezwungen, draußen zu warten, der Angeklagte betritt vor ihnen das Gericht. Es ist Adolf Hitler.

Begegnung mit Adolf Hitler

Tergit ist empört, wirft dem Gericht vor, Hitler wie die zukünftigen Monarchen zu behandeln. "Wilhelm der Dritte erscheint in Moabit" nennt sie passenderweise ihren Text. Jahre später wird sie sich in ihren Erinnerungen fragen: "Wenn ich einen Revolver besessen hätte und ich hätte ihn erschossen, hätte ich fünfzig Millionen vor einem frühen Tod gerettet und ich wäre Judith II.  geworden. Aber wer hätte das gewusst?"

Die nächsten Jahre, Tergit beschreibt sie rückblickend als "fette Jahre", laufen gut für sie. Sie veröffentlicht ihren ersten Roman "Käsebier erobert den Kurfürstendamm", ein Gesellschaftspanorama des damaligen Berlins, der ein großer Erfolg wird. Sie wird gefeiert.

Doch dann kommt die Nacht, die alles verändert. In den frühen Morgenstunden des 4. März, Tergits 39. Geburtstag, hämmern Fäuste an ihr Haustor. Es sind zwei Worte ihres Mannes, die Gabriele Tergit das Leben retten. "Nicht öffnen"! brüllt er der Hausdame hinterher.

Flucht vor den Nazis

Ein SA-Trupp steht vor der Tür mit einem Haftbefehl für seine Frau. Noch am selben Tag flieht Tergit mit ihrem Sohn nach Spindlermühle im Riesengebirge. Von dort nach Prag. Ihr Mann schafft es nach Jerusalem. Tergit reist ihm nach. Doch das damalige Palästina bleibt ihr fremd. Der Zionismus, die Sprache, das Klima, die Menschen. Der Versuch, hier Heimat zu finden, scheitert. Nach fünf Jahren zieht die Familie nach London.

London, 1938. Im Exil beendet sie ihren Roman "Effingers", der jedoch erst 1951 erscheinen wird. Drei Jahre nach Kriegsende zieht es sie nach Berlin.

Was machen die Menschen? Wie sieht es in den Gerichten aus? Alles erscheint ihr so verändert in dieser immer noch verwundeten Stadt, in der sie nun eine Fremde ist. Sie kehrt zurück nach London, verdient dort 24 Jahre lang ihren Lebensunterhalt als Sekretärin der internationalen Schriftstellervereinigung PEN.

London, 1982. Am 25. Juli stirbt Gabriele Tergit. Sie, die so viele war: Die Gerichtsreporterin, Schriftstellerin, Gesellschaftskritikerin, Frau und Mutter. In Berlin erinnert eine Straße an sie: die Gabriele-Tergit- Promenade.

Die wichtigen Frauen des Jahrzehnts 1930-1939

Am 4. Dezember 1931 startet die damals 24-jährige Elly Beinhorn von Berlin aus zu einer Weltumrundung im Alleinflug - in ihrer offenen D-2160. Am 26. Juli 1932 kehrt sie zurück und veröffentlich den Bestseller "Ein Mädchen fliegt um die Welt".

In den 30er-Jahren wird außerdem Marlene Dietrich zum Hollywoodstar. Der Durchbruch gelingt ihr 1930 mit ihrer Rolle der "Lola" in "Der blaue Engel", der Song "Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt" wird ein Welthit.

Stand: 25.02.2019